TEXT: ANDREAS WILINK
Nazaret Manoogian verschlägt es die Sprache, nachdem ihm ein Messer die Kehle aufschlitzte. Sein Verstummen angesichts der Gräuel lässt sich nicht anders als symbolisch nehmen. Die Idylle im mesopotamischen Mardin mit Häuslichkeit, Zärtlichkeit, Heiterkeit währt für den jungen Schmied und seine Familie nur kurz, bevor die Türken während des Ersten Weltkriegs die christlich-armenischen Männer mehr oder weniger versklaven und bald auch Frauen und Kinder verschleppen, vertreiben, schänden, töten.
Der Schnitt, den Fatih Akins Film setzt und ihm als »The Cut« den Titel gibt, trennt mehr, als den Hals des Opfers: auch die offizielle Geschichtsschreibung der Türkei in ein Vorher und Nachher und auf der persönlichen Ebene einen Mann von seiner Frau und seinen Zwillings-Töchtern. Fatih Akins Drama über den Völkermord an den Armeniern hebt an mit einem »Es war einmal. Es war keinmal«. Auch hier ein Schnitt, die Trennlinie zwischen: So ist es gewesen und So darf es nicht gewesen sein. Doch nimmt dieser Märchenton als Erzählhaltung, die nicht episch durchatmet und sich nie mit Volumen aufpumpt, dem in Venedig ohne Preis gebliebenen Film eine über das (immer und überall leidvolle) individuelle Schicksal hinausgehende Bedeutung.
»The Cut« schafft keine prägenden Bilder und überwältigenden Panoramen, sondern tappt treu und brav hinter der Leidensspur seines Helden her. Selbst krass realistische Szenen – Leichen in einem Wasserbrunnen, das Elend eines Flüchtlingscamps, die scheußliche Massentötung von Männern, die Brutalität des Arbeitsdienstes, die Einsamkeit und Verzweiflung von Nazaret – brennen sich nicht ein. Vielleicht sind diese Zeiten ja für immer vorbei, aber man ruft sich unwillkürlich Vergleiche ins Gedächtnis: »Doktor Schiwago«, »Lawrence of Arabia«, selbst »Ben Hur«. Der lange Weg Nazarets zu seinen Kindern, gespannt von 1915 bis 1923, bleibt auch als abenteuerliche Odyssee eines lonesome Wanderers von Aleppo und dem Libanon hinüber nach Kuba, Florida, Minneapolis und North Dakota ohne Perspektive und Größe. Kein Blick weit und breit. Kein Anrennen gegen die Wand.
Am ehesten verzeihlich ist noch die schrecklich hohl klingende deutsche Synchron-Fassung, ebenso der ständige nervzurrende E-Gitarren-Lärm; weniger schon das Sterile der Stationen-Folge und die nun wirklich nicht (trotz Mithilfe von Mardik Martin) geniale Drehbuch-Dramaturgie. Bleibt also die gute Absicht und ein großartiger Hauptdarsteller: Tahar Rahim, der – auch ohne Worte – die mehr als zwei Stunden ganz allein trägt. Einmal, nach der Vertreibung der Türken durch die Briten, sitzt Nazaret mit vielen anderen in einem Hof in Aleppo und sieht Chaplins »The Kid«, behelfsmäßig projiziert auf eine Hauswand. Herzzerreißend, ein Schnitt durchs Innerste. So kann es sein, wenn das Kino zum Lachen und zum Weinen verhilft – und verführt. Das ist die Botschaft. Fatih Akin ist ihr Prophet. Aber seine Art, diesen Film zu inszenieren, ist kleingläubig.
»The Cut«; Regie: Fatih Akin; Darsteller: Tahar Rahim, Lara Heller und viele mehr; Deutschland 2014; 138 Min.; Start: 16. Oktober 2014.