Eine der wirklich plattesten aller Plattitüden über die Liebe ist die Feststellung, sie sei die wohl wunderbarste Form der Abhängigkeit. Die Abgründigkeit einer solch banalen Selbstverständlichkeit auszumessen, ist eines der großen Themen der Literatur. Sie tut dies in der Regel, indem sie vom Schwindel, vom Zittern und Herzrasen handelt, von den Turkeys, die Gefühlsjunkies schieben, sobald ihre Droge nicht mehr verfügbar ist.
Katja Lange-Müllers neuer Roman »Böse Schafe« ist das rückblickende Protokoll einer solchen Entzugserscheinung. Ein atemberaubend trauriges Buch, trotz, vielleicht aber auch wegen der Distanz, die die Ich-Erzählerin Soja, eine gelernte Setzerin Ende dreißig, im Rückblick zwischen sich und den vor Jahren gestorbenen Harry zu legen sucht. Sie nimmt Abstand, indem sie sich an diese ganz sonderbare Form von Intimität erinnert. Eine Nähe, die sie, von undatierten Aufzeichnungen Harrys provoziert, in einem grandiosen Abschiedsmonolog von stilistischer Eigenwilligkeit hinterfragt.
89 Sätze hat Harry in einem Schulheft niedergeschrieben. Er hat sie Soja nicht bewusst hinterlassen, sie fielen ihr nach seinem elenden Tod einfach zu und fordern ihre Erinnerung noch Jahre später heraus; nicht durch das, was sie darin über sich in Erfahrung bringen könnte, sondern durch ihre vollkommene Abwesenheit in den Notaten. Also befragt Soja sich und die Vergangenheit, sucht die Zweifel zu zerstreuen, die ihr Erzählen in Gang gesetzt haben. »Ach Harry, wäre dieses Heft bei jemand anderem gelandet und der neugierig genug gewesen, es auch zu lesen«, so heißt es am Anfang, »er hätte nicht einmal ahnen können, daß es mich in deinem Leben, das meines war und ist, jemals gab.« Aber war ihr Leben auch seines?
Schön, blauäugig, bleich, aschblond ist Harry – ein schnoddriger, anziehend kaputter Typ: »Na Mausepuppe, wohin geht’s«, fragt er sie, als sie sich das erste Mal begegnen. Soja ist vor noch nicht langer Zeit von Ost- nach West-Berlin übergesiedelt, hält sich mit Jobs und Sozialhilfe über Wasser. Er hingegen kommt frisch aus dem Knast, auf der Flucht vor der ihm auferlegten Resozialisierungsmaßnahme. Dort hinein hatte ihn ein Beschaffungsdelikt gebracht, das Harry – wir sind schließlich im West-Berlin der 1980er Jahre – großzügig als linkspolitische Tat deklariert. Kurz danach wird er Sojas Liebeshungrigkeit mit einem »kleinen, spitzmäuligen, geradezu lächerlich sanften Kinderkuß« mehr aufschieben als stillen, »nicht wie von einem, sondern wie für ein Kind.« Gleichwohl ist es Soja, die für beider Leben von nun an Verantwortung übernimmt. Sie knüpft um Harry ein soziales Netz, um ihn von seiner lange verheimlichten Heroin-Sucht zu befreien. Sie hilft ihm mit Geld und später auch mit einer Wohnung aus. Sie sucht ihn, er duldet sie, auch aus Berechnung – zumindest will es so scheinen. Doch, das behauptet Soja immer wieder vor sich selbst, so ist es nicht. Sie sorgt sich, er belügt sie, nicht zuletzt darüber, dass er HIV positiv ist, ihre Ansteckung in Kauf genommen hat. Soja ist enttäuscht, wütend, Harry fordert »Solidarität« und: Sie bleibt bei ihm.
»Böse Schafe« ist alles andere als die schnöde Niederschrift einer großen Liebesblindheit. Gelingt es Katja Lange-Müller doch auf großartige Weise, das, was Roland Barthes einmal »die Mechanik der Lehnspflicht des Liebenden« genannt hat, bis in die kleinsten Rädchen und Stellschrauben hinein frei zu legen. Diese Sehnsuchtsmaschinerie kommt deshalb nie zum Stillstand, weil ihr Schmiermittel noch eine andere Droge als nur die des Gefühls ist. Harry ist süchtig, nicht nach Soja, aber auch nicht nach einer anderen. Er hintergeht Soja, ohne ihr untreu zu werden. All die kleinen Unwahrheiten, Tricks und Demütigen befestigen deshalb nur das Band, das die beiden aneinander fesselt.
Es ist kein geringer Kunstgriff Katja Lange- Müllers, diese Liebesleidensgeschichte aus der Perspektive Sojas zu erzählen. Bleibt ihr dadurch doch eine große Unaufgelöstheit. So findet »Böse Schafe« eine Antwort auf die Frage, was es mit dieser Beziehung auf sich hatte. Nicht, indem sie sie erklärt. Nein, es ist die denkbar schmerzhafteste: die Vergegenwärtigung. //
Katja Lange-Müller: Böse Schafe; Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007, 205 Seiten, 16,90 Euro