TEXT: ANDREAS WILINK
Bilder vom Winter wie bei Brueghel. Streng komponiert. Weiß bestäubt. Eine graue Bergarbeiter-Stadt, in eine Straßenlücke ragt der Förderturm einer Zeche, um die Ecke biegt der Trauerzug einer Beerdigung. Die Posaunen begleiten den schweifenden Blick der Kamera über diese triste Welt in Rumänien. Der elfjährige Matei sammelt Schmetterlinge, die in ihrem gläsernen Gefängnis flattern. So fühlt auch er sich. Die Schachtel mit den toten Tieren wird er irgendwann auf dem Fluss aussetzen, sie strudelt eine Kaskade herab und geht unter. Mateis Eltern arbeiten in Italien, er wohnt beim Großvater. Als er von der Schule fliegt, packt er seine Sachen und haut ab. »Matei Child Miner« (RO/D/F) von Alexandra Gulea ist bestechend schön, gefasst und von bewegender Gleichmut. Abends sitzt Matei einsam auf einer Schaukel; er nächtigt in Hausfluren; Hunde bellen; Wäsche weht im Wind; Züge rangieren. Schuberts »Winterreise« zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort. Ein verlorener Junge in Nimmerland. Nachts streift er durchs Naturkundemuseum in Bukarest, das aussieht wie der Palast der Schneekönigin im Märchen. Als der Junge zurückkehrt, stirbt der Großvater. Am Sterbebett betet Matei wie eine Litanei die ornithologischen Namen der Insekten herunter: sein Requiem.
Im Süden Europas sieht die Welt nicht besser aus. Auch sie befindet sich im Entmächtigungs-Zustand. Spaniens schwerer Atem gibt den Rhythmus vor in »La Plaga« (Neus Ballús), der mit Laiendarstellern gedreht wurde. Raul, ein Landarbeiter mit Nebenjobs, eine gehbehinderte alte Frau, die ihr Haus verlor und ins Heim kommt, eine asiatische Pflegerin, eine arbeitslose Frau. Sie leben am Rande des Sozialen, an der Peripherie von Barcelona. Kommentarlos führt der Film die Anforderungen und Überforderungen vor, um das Alltägliche zu bewältigen. Dauernde Erschöpfung geht von den Gesichtern der Figuren – und dem halb dokumentarischen Film selbst aus: Leere, Verlassenheit, Stumpfsinn in den Räumen, bei den Menschen, selbst in der Landschaft. Alle haben zu tun, trotzdem spürt man eine Art Lethargie. Insektenbefall gefährdet die Ernte – symbolisch zu nehmen wie die biblische Plage.
»Talea« (Österreich) erzählt von einem besonderen Muttertag. Jasmin (Sophie Stockinger) bringt ihre Mutter Eva (Nina Proll), die im Gefängnis gesessen hat und neu anfängt, dazu, mit ihr einen Wochenendausflug zu unternehmen. Die 14-Jährige, in sich gekehrt und feindselig, gerade auch gegenüber den Pflegeeltern, hat im Streit und heimlich das ungeliebte Ersatz-Heim verlassen, wohin Eva sie hatte abgeben müssen. Die Mutter, die Arbeit in einer Gärtnerei fand, hegt andere Wünsche, als traute Zweisamkeit mit dem Teenager. Da wäre die Lust, tanzen zu gehen, sich auszuleben, und da ist der Pensionswirt (Philipp Hochmair). Jasmin brütet finster. Ungute Gefühle wollen raus. Die Haneke-Schülerin und Regisseurin Katharina Mückstein wählte für ihren lakonischen Einstand als Titel den italienischen Begriff Talea. Er meint den Teil einer Pflanze, den man abbricht und in die Erde steckt, damit er Wurzeln treiben kann. Ein solcher Setzling ist Jasmin, die ihre eigenen Wurzeln entwickeln muss. Sich frei schwimmen, wie das letzte Bild zeigt.
Familie ist nicht alles. Wo die eigene versagt oder ausfällt, füllen die Lücke Wahlverwandte. Für einen Single kann ein Tisch mit vier lärmenden, jüngeren und halb erwachsenen Kindern, die sich um Suppe und Hot Dogs kebbeln, eine Abwechslung sein. Mutter Martha ist HIV-infiziert und todkrank. Sie und die jüngere Claudia waren Bettnachbarn im Krankenhaus. Kurzerhand wird Claudia eingemeindet und in den Haushalt integriert. »The Amazing Catfish« (Claudia Sainte-Luce, Mexiko) ist der – genaue, stimmungsreiche, in kleinen Gesten und Situationen fein erzählte – Eröffnungsfilm (ab 8. Mai in den Kinos). Unversehens wächst Claudia in die Rolle der Pflegerin, Vertrauten und Ersatzmutter, auch wenn ihr Blick anfangs sagt, dass sie nicht weiß, wie ihr geschieht. Schön zu sehen, wie die unterschiedlichen Temperamente und Probleme der Töchter und des Jüngsten Armando, das wachsende Vertrauen, die existentielle Krise des Verlustes sich verbinden. Auch diese Familie macht einen Ausflug: ans Meer – Marthas letzte Reise, bevor wunschgemäß ihre Asche in der Stadt verweht wird. Ihren Kindern und Claudia gibt sie auf dem Tonband letzte Worte mit. Nichts Großes. Aber fürs Leben. A la Vida.
Die einzige Geschichte, die sich sentimental zu ihrem Gegenstand verhält, ist ein entspanntes Familientreffen im Magnetfeld der Gefühle. Ein Wiedersehen: Bruno kehrt nach langer Zeit in Deutschland nach Chile zurück und besucht seine Leute auf dem Land. Allein, das Haus der Erinnerungen, in dessen Nähe ein Magnetbaum steht (»The Magnetic Tree«, E/RCH, Isabel Ayguavives) muss verkauft werden. Die Enge dieses Generationen-Ortes mag bedrückend sein und Fluchtimpulse auslösen, aber man lacht sich frei. Tschechow auf Südamerikanisch.
»Lasset die Kindlein zu mir kommen«, predigt der russisch-orthodoxe Pope. Aber das gilt kaum für »Marussia« (RUS/F, Eva Pervolovici) und ihre Mutter Lucia. Besser würde das Bibel-Wort passen: »Denn sie hatten keinen Raum in der Herberge.« Beide ziehen mit Rollkoffern durch Paris, fahren Métro, campieren im Waschsalon oder im Kino, spendieren sich mal ein Hotel, stehen auf einer Vernissage herum, immer um eine Unterkunft kämpfend. Die Modejournalistin war aus Moskau geflüchtet, nachdem ihre Affäre, ein reicher Russe, in Ungnade fiel. Sie kann in Paris die Notrufnummer 115 für einen Asylplatz anrufen, aber nur von einem öffentlichen Telefon, um zu beweisen, dass sie tatsächlich auf der Straße lebt. Und muss jede Nacht dort zubringen, sonst wird das Zimmer vergeben. Männliche Zufalls-Bekannte werden gezielt für eine vorübergehende Bleibe kontaktiert. Lucia ist couragiert, gibt sich offenherzig, macht sich nützlich. Aber der Zustand bleibt ambulant, auch wenn Lucia versucht, Marussia so gut es geht Normalität und Freude zu geben. Die nimmt es manchmal fast als Abenteuer, oder ist doch einfach nur müde. Vielleicht wäre der Weg zurück leichter …
»Le sens de l’humour« (F, von und mit Marilyne Canto). Noch einmal Mutter und Kind. Sie gehen offen miteinander um, einander ebenbürtig. Sagen sich alles, nicht nur Nettigkeiten. Elise, Museumspädagogin am Louvre, lebt allein mit dem zehnjährigen Léo (Samson Dajczman), seit der Ehemann starb. Sie sind jüdisch, aber nicht gläubig. Auch Elises Freund Paul kommt klar mit Léo. Nur als Paar stagnieren Mann und Frau im Auf und Ab von Nähe und Abwehr, Streit und Versöhnung. Léo spürt jedes Nachbeben der Krise. Zumal plötzlich Elise schwanger ist. Vor 30, 40 Jahren drehte Claude Sautet solche Filme über moderne Frauen und ihren Alltag zwischen sozialer Selbständigkeit und emotionaler Abhängigkeit. »Une histoire simple« hieß eine dieser Geschichten: schlicht, leicht, klar und klug. Wie auch Marilyne Cantos Film.
»Des Etoiles« (F/SN, Dyana Gaye): Welche Sterne sind gemeint? Die über Afrikas Himmel, über Italien oder die über New York, wie sie sich in der US-Flagge sprenkeln? Entwurzelt sind die Mitglieder einer senegalesisch-stämmigen Familie aus Dakar, die als Migranten in Turin und in Amerika stranden. Ein Mann wird in der Heimaterde begraben. Sophie, eine Generation jünger, sucht ihren Ehemann Abdoulaye in der Fremde Europas, wobei es den in die Vereinigten Staaten verschlug. Man braucht einen Kompass, um beim Navigieren zwischen den drei Schauplätzen und den unsicheren Umständen im Provisorium zu folgen. Das Prinzip der Dreiteilung spiegelt die Gefühls- und Lebenslage der Figuren. Aber da ist mehr als Verunsicherung. In der Ankunft im Unbekannten liegen Möglichkeiten. Sophie findet sich ein in Turin. Thierno aus New York besucht erstmals den Senegal und fühlt sich wohl. Abdoulaye aber sitzt verloren am Strand von Coney Island. Schaut aufs Wasser, dem Element des Ungewissen. So wechseln wie Ebbe und Flut poröse Identität, Isolation und deren Aufhebung.
8. bis 13. April 2014, Köln, Odeon Kino. www.frauenfilmfestival.eu