TEXT SASCHA WESTPHAL
Es gibt kein Entkommen und auch keinen Schutz. Distanz ist unmöglich. Dafür ist der Raum in der Grotte, der Container-Höhle vor Kölns Schauspiel-Depot, zu klein und eng. Also bleibt nur zu hoffen, dass Justus Maier einen nicht ins Visier nimmt. Einen Döner in der Hand, geht der junge Schauspieler von einer Zuschauerin zur nächsten. Mal zwängt er sich auf der einen, mal auf der anderen Bank zwischen zwei Besucher, die sichtlich unruhig werden. Er gibt sich freundlich, fast kameradschaftlich und bietet seinen Sitznachbarn etwas vom Döner an. Doch das alles kann die Aggression, die in ihm schwelt, nicht überdecken. Akzentuiert sie sogar noch. Die Frage ist nur, wann und nicht ob er explodieren wird.
So offensiv und bedrückend wie diese ersten Momente von Pınar Karabuluts Inszenierung von Dirk Lauckes Deutschland-Panorama »Furcht und Ekel. Das Privatleben glücklicher Leute« ist Theater nicht oft. Meist kann man sich in ein ›Ist doch alles nur Spiel‹ flüchten und Abstand wahren. Diese Rückzugmöglichkeit hat die 1987 geborene Theatermacherin ihrem Publikum konsequent verbaut. Plötzlich fühlte man sich im Raum des Theaters wie in einer U-Bahn oder einem Bus, in die ein wütiger Skin einsteigt, der beginnt, die Fahrgäste zu bedrängen. Genau so sollte es auch sein.
Lauckes Szenensammlung zum Rechtsruck der deutschen Gesellschaft ist in Karabuluts Augen eines dieser Stücke, »bei denen man sich so angegriffen fühlt, dass man das in der realen Welt nicht erleben möchte«. Sie weiß, dass solche Sätze schnell pathetisch und ziemlich romantisch klingen. Aber das hindert Pınar Karabulut nicht daran, sie befeuert auszusprechen. Wie ihre Inszenierungen ist auch sie selbst direkt und gelegentlich ein wenig laut und schrill.
Während wir in einem schmucklosen, leicht verwahrlost wirkenden Aufenthaltsraum in der Halle Kalk sitzen, wo die Proben zu »Romeo und Julia« stattfinden, kann sie ihre Hände kaum stillhalten. Sie bewegen sich in der gleichen Schnelligkeit, mit der sie spricht. Karabulut kam im ersten Jahr von Stefan Bachmanns Intendanz als Regieassistentin ans Schauspiel Köln und hat seither dort ebenso wie in Dresden, am Berliner Maxim Gorki Theater und am Münchner Volkstheater eigene Inszenierungen herausgebracht. Ihre Gedanken scheinen sich zu überschlagen, so dass die Worte kaum hinterherkommen. Dennoch wirkt sie weder fahrig noch sprunghaft. Alles kreist jetzt um »Romeo und Julia«.
Selbst wenn wir über ihre anderen Arbeiten oder das Theater überhaupt sprechen, schlägt sie den Bogen zurück zu Shakespeares Liebestragödie, die sie in Anlehnung an John G. Avildsens Teenager- und Martial-Arts-Film »Karate Kid« ihren »Mister Miyagi, dem sie sich stellen muss«, nennt. Eigentlich ist es schon ein Klischee, wenn eine junge Frau, die gleich mit ersten eigenen Produktionen zu Festivals eingeladen wurde, als ersten Klassiker ausgerechnet »Romeo und Julia« inszeniert. Sie lacht laut und stimmt zu. Aber sobald sie über das Drama nachdenkt, verflüchtigt sich der Gedanke: In »Romeo und Julia« werde »wie unter einem Brennglas jegliche Form der Liebe untersucht und für unsere Blicke vergrößert«. Dieser Untersuchung möchte sie sich »hingeben.«
Zugleich betont sie, dass simple Modernismen sie nicht interessierten. Romeo und Julia werden keine SMS schreiben und auch nicht mit dem Smartphone hantieren. Trotzdem sind sie Menschen unserer Zeit. »Freaks, die sich die Welt selbst gestalten wollen und nicht machen, was ihnen von anderen vorgegeben wird.« Das bleibt Pınar Karabuluts Aufmerksamkeit für die gesellschaftliche Analyse und politische Kunst.
In Köln hat sie neben Stücken von Laucke (»Furcht und Ekel«, »Karnickel«) noch Jonas Hassen Khemiris »Invasion!« inszeniert und am Dresdener Staatstheater »Gott wartet an der Haltestelle«, Maya Arad Yasurs Tragödie über einen Selbstmordanschlag in einem Café in Haifa, erstaufgeführt. Jeweils drängend aktuelle Fragen und Konflikte aufgreifende Stoffe, die kritisch auf die Gegenwart blicken. Vor diesem Hintergrund wirkt ihre Entscheidung für »Romeo und Julia« zunächst als Bruch. Aber ist vermutlich eher ein notweniger Perspektivwechsel hin zur »zwischenmenschlichen Politik, zu Liebe und Hass, anarchischen Ausbrüchen und zerstörerischen Selbstzweifeln«.
»Theater ist ein Luxusgut«, davon ist Karabulut überzeugt. Als solches darf es, wie sie gern sagt, »nicht bequem werden«. Das wäre pure Verschwendung. »Wir machen diese Form von Kunst, weil wir etwas an der Welt verändern wollen.« Das gilt auch für »Romeo und Julia«. Schließlich konfrontiert die Tragödie mit normierten Vorstellungen von Liebe und Glück, die uns »das Gefühl geben, nicht genug geliebt zu werden«. Leicht entsteht gerade aus diesem Gefühl heraus Hass.
»Romeo und Julia«, Schauspiel Köln, Depot 1, Termine: 12. (Voraufführung), 14. (Premiere), 15., 22. & 26. Oktober.