Wieder nicht geschafft, im Sommer 2010 den Sommer 2011 zu planen? Was jetzt noch zu haben ist, sind drei Wochen in der neunten Liegestuhl-Reihe – zu kurz, um wenigsten einmal das Meer gesehen zu haben. Aber es gibt ja noch mehr gute Gründe, nicht zu verreisen. Zu finden in unseren literarischen Last-Minute-Angeboten für den Sommer auf dem Balkon: preisminderungsverdächtige Ausflüge in Raum und Zeit.
1880 – MARK TWAIN AUF DEUTSCHLANDREISE
»Die humoristische Geschichte hat immer einen ernsten Ton; der Erzähler gibt sich größte Mühe zu verbergen, dass er auch nur ansatzweise denkt, irgendetwas an ihr könnte witzig sein.« Diese Zeilen aus Mark Twains Essay »How to Tell a Story« (1895) könnten auch als Motto über seinen Reiseberichten stehen. Wenn es einen Grund gibt, warum sich z.B. »Bummel durch Europa« nach 130 Jahren immer noch so frisch liest, dann ist es die trockene Erzählweise. Man ahnt, wie Twain diese Reise-Anekdoten vorgetragen hat – ohne die Miene zu verziehen, selbst an den komischsten Stellen. »Deadpan«, wie die Amerikaner sagen.
Es fängt schon auf der ersten Seite an: »Eines Tages fiel mir auf, wie viele Jahre vergangen waren, seit die Welt das Schauspiel erlebt hatte, dass ein Mann verwegen genug war, eine Fußreise durch Europa zu unternehmen. Nach vielem Nachdenken entschied ich, dass ich der Richtige wäre, der Menschheit dieses Schauspiel zu bieten.« Kaum in Europa gelandet, steigen Twain und sein Begleiter Mr. Harris in den Schnellzug. Heroischer Fußmarsch ade.
Erste Station ist Heidelberg. An der altehrwürdigen Universität schrei-ben sie sich für einen Kunstkurs ein. Nebenbei beobachten sie das deutsche Studentenleben. Twain ist erstaunt über die entspannte Stimmung der Jungakademiker, die nachmittags Bier trinken, Bootsfahrten unternehmen und es sich generell gut gehen lassen – wenn man von den Fechtduellen der Studenten-Corps (die Twain mit einer Mischung aus Übelkeit und Faszination betrachtet) einmal absieht. Zwischendurch schaut auch mal die Gattin des Kaisers vorbei, was in Heidelberg zu mächtiger Unruhe und stundenlangem Justieren des Roten Teppichs führt.
Während Twain von der deutschen Landschaft und Geschichte beeindruckt ist, kann er mit den neueren kulturellen Erzeugnissen wenig anfangen. Zu einer vierstündigen Wagner-Oper notiert er: »Das Gebumse und Gepauke, Gedröhn und Gekrache war einfach unglaublich. Der quälende und unbarmherzige Schmerz, den es verursachte, ruht in meinem Gedächtnis gleich neben der Erinnerung an die Zeit, als ich meine Zähne in Ordnung bringen ließ.«
Nicht, dass nur die Deutschen karikiert würden. Bei einer Wanderung durch die Schweizer Bergwelt begegnen Twain und Begleiter einem Jodler. Anfangs fasziniert, stecken sie ihm ein paar Münzen zu, damit er weitermacht. »Danach trafen wir alle zehn Minuten einen Jodler; dem ersten gaben wir acht Cent, dem zweiten sechs Cent, dem dritten vier Cent […], den Nummern fünf, sechs und sieben zahlten wir nichts und stellten für den Rest des Tages die übrigen Jodler für einen Franken pro Kopf dazu an, nicht mehr zu jodeln.«
Auf der Alpensüdseite geht es weiter nach Mailand und Venedig. Dort hat Twain ausgiebig Zeit für politisch unkorrekte Betrachtungen der Alten Meister und zu Analysen der einheimischen Gestik: »In einem […] Viertel begegneten wir sechs Italienern, die sich heftig stritten. Sie tanzten wild umher und gestikulierten mit dem Kopf, den Armen, Beinen, mit dem ganzen Körper; gelegentlich stürzten sie in einem plötzlichen Wutausbruch vor und fuchtelten einander mit den Fäusten vor der Nase herum. Eine halbe Stunde vergeudeten wir dort und warteten darauf, beim Zusammenschnüren der Toten mithelfen zu könne, aber schließlich umarmten sie einander herzlich, und der Ärger war völlig vergessen.«
Am Ende ist das Europa in Twains Reiseberichten gleich dreifach entrückt – durch die zeitliche Distanz, durch die Perspektive eines Amerikaners auf die Alte Welt und durch Twains Sprachwitz, der wiederum keinerlei Rost angesetzt hat. | JUK
Mark Twain, »Bummel durch Europa«, Diogenes, 507 S., 12,90 Euro
1933 – ROBERT BYRON MACHT SICH AUF DEN WEG NACH OXIANA
All jene, die wegen schlecht gefederter Reisebusse um gehörige Preisnachlässe mit dem Veranstalter feilschen, seien daran erinnert, was Robert Byron am 14. September 1933 auf der Fahrt nach Beirut hinter einer verwitweten Araberin erlebte: »Alle zwanzig Minuten streckte sie den Kopf zum Fenster hinaus, um sich zu erbrechen. Wenn wir nicht gerade anhielten, flog das Erbrochene zum hinteren Fenster wieder ins Auto hinein. Die drei Stunden waren nicht besonders angenehm.« Was kann der moderne Reisende daraus lernen? Haltung.
Denn das ist erst der Anfang einer elfmonatigen Tour, die später noch sehr ungemütlich werden sollte. Venedig, Zypern, Palästina, Syrien, Irak, Persien, Afghanistan sind die Stationen. Zwischendurch wird Byron, ein Nachkomme des berühmten Lords, verhaftet, droht von sintflutartigen Regenfällen weggeschwemmt zu werden. Doch ein Problem deutet sich nur dann an, wenn der Whisky zur Neige zu gehen droht. Byrons »Der Weg nach Oxiana« gehört zum Besten, was die Reiseliteratur zu bieten hat. Denn ihm ist Unterwegssein noch Lebensform. Der ›moderne Reisende‹, der »die entlegensten Winkel des Erdballs» durchdringt um festzustellen, dass »Sanddünen singen und Schnee kalt ist«, ist ihm ein Graus. Wer sehen will, muss lesen, lautet Byrons Empfehlung an Menschen, denen es um mehr geht als beliebige Ortswechsel – drei Bücher pro Woche und dazu täglich eine Flasche Wein trinken. Wahrnehmung ist für Byron Distinktion und ästhetischer Genuss das Ziel: »Einen Sonnenuntergang zu verunglimpfen«, so notiert er im persischen Shahi, »ist heutzutage eine politische Taktlosigkeit, ebenso ihn zu preisen, wenn im Vordergrund zufällig eine Zementfabrik steht, die man statt dessen loben sollte. Irgendjemand muß im Interesse der Vernunft gegen die Tabus des modernen Nationalismus verstoßen. Der Geschäftsmann kann nicht, der Diplomat will nicht. Also müssen Leute wie wir es tun.« | ANK
Robert Byron, »Der Weg nach Oxiana«, Eichborn, 432 S., in Antiquariaten und Büchereien
1937 – TANIA BLIXEN IN AFRIKA
Vergessen wir für ein paar Lesestunden die Bilder, die im Gedächtnis haften: die blonde Meryl Streep, der noch blondere Robert Redford und der aasige Klaus Maria Brandauer. Und erinnern nur die Atmosphäre: das Sirren und Flimmern der Steppe, die Sonne, einen Stern in der Nacht von »zitronengelbem Topas«, den Wind (»König Salomons liebstes Roß«), die Silhouetten der Kikuju und Massai gegen den Horizont. »Out of Africa«, Sydney Pollacks Hollywood-Autoren- und Starkino mit tragisch endender Love Story von 1985, trifft durchaus die Klimabedingungen des Buches.
Die Baronin Tania Blixen-Finecke, die auch die Pseudonyme Karen Blixen und Isak Dinesen benutzte, hebt an: »Ich hatte eine Farm in Afrika am Fuße der Ngongberge«. Der berühmte erste Satz schlägt gleich die Sehnsuchts-Tonlage an: »Ich hatte« – Es war einmal. Verlorene Zeit. »Reiten, Bogenschießen, die Wahrheit sagen«, steht als Motto dem 1937 erschienenen Buch voran, das Bekenntniswerk, Trauerarbeit, mystische Schrift, Autobiografie, Fiktion und poetisch verdichtete Propaganda für den Schwarzen Erdteil ist. Ein romantisches und ein moralisches Programm. Beides erfüllt »Afrika dunkel lockende Welt« in seiner Leidenschaft und dem vitalen Freiheitsdrang, den Blixen für sich selbst, das Land, seine Bewohner, Mensch und Tier reklamiert, die sie – personifiziert in ihrem Freund und Diener Kamante und der Gazelle Lulu – besingt wie Rilke die Kreatur.
Ein erlebtes als erträumtes Afrika. Die 17 feudal-komfortablen Jahre auf der kenianischen Kaffee-Plantage in 2000 Meter Höhe findet Blixen im Rückblick aus der Ferne ihrer dänischen Jugend- und Altersheimat. In Rungstedlund residiert sie da, krank, zart und vornehm, verfasst ihre kostbaren Novellen und Gothic Tales und empfängt die Welt. Eine African Queen wie aus einem Andersen-Märchen. Blixens (1885-1962) aristokratische Natur und unabhängiger Geist fühlten in Afrika den gleichen Herzschlag. Ihr leuchtendes Buch in fünf Großkapiteln über den Alltag, ihre Liebe und Einsamkeit, ihre Courage und den wirtschaftlich letztlich vergeblichen Kampf hat nichts gemein mit europäischen Kolonialberichten jener Zeit. Es geschehen Zeichen und Wunder. Grundiert von der »Liebe des Nordländers zum Süden«, heroisiert und idealisiert sie ihr Afrika, setzt aber zugleich den geschundenen Kontinent – gegen den Sündenfall der Weißen – ins Recht und billigt ihm Würde zu und Autonomie. | AWI
Tania Blixen, »Jenseits von Afrika«, Manesse, 412 S., 22,95 Euro
1971 – HUNTER S. THOMPSON FÄHRT NACH LAS VEGAS
Wer zwei Beutel Gras, 75 Kügelchen Meskalin, fünf Löschblattbögen Acid, einen Salzstreuer halbvoll mit Kokain, dazu Upper und Downer jeglicher Art sowie jeweils eine Flasche Tequila und Rum, einen Karton Bier, unverdünnten Äther und zwei Dutzend Knick-und-Riech im Kofferraum hat, braucht den Motor eigentlich überhaupt nicht anzulassen, um mal so richtig abzufahren. In Hunter S. Thompsons Roman »Angst und Schrecken in Las Vegas« aber fallen Trip und Reise zusammen. Der Reporter Raoul Duke und sein samoanischer »Anwalt« Dr. Gonzo sind unterwegs von Los Angeles nach Las Vegas, um im Auftrag eines New Yorker Sport-Magazins über das Wüstenrennen »Mint 400« zu berichten. Soviel zu jenem Teil der Fahrt, der sich auf der Landkarte nachzeichnen lässt. Nach einem guten Drittel des Buches sitzt Raoul Duke zwar wieder in seinem gemieteten roten Chevrolet-Cabrio, nennenswerte Ortsveränderungen gilt es aber nicht mehr anzuzeigen. Wichtiger ist, dass die Vorräte an chemikalischen Substanzen weitgehend aufgebraucht sind und der Wagen dafür mit 600 Stück transparenter Neutrogena-Seife angefüllt ist, die sich die beiden auf das Hotelzimmer hatten kommen lassen. Was genau da in nur einem Tag passiert ist, das zu schildern würde hier ein bisschen zu weit fühlen. Der »Anwalt« jedenfalls hat sich aus dem Staub gemacht, von dem es in der Wüste naturgemäß reichlich gibt. Weshalb Duke auch nichts Brauchbares zu Papier bringt, denn von der Bar aus reicht die Sicht gerade mal, um den dreißig Meter entfernten Boxenbereich zu erkennen. Und über die riesigen Fledermäuse, die Duke und Dr. Gonzo auf der Hinfahrt begegnet sind oder die Muräne, die an der Hotelrezeption auf die beiden wartete, möchte man dann ja lieber doch nicht berichten. Zwischenbilanz: Keine Story, eine fabulöse Hotelrechnung, Polizei am Hals.
»Angst und Schrecken« in Las Vegas, 1971 in den USA erschienen, 1998 von Terry Gilliam mit Johnny Depp als Duke verfilmt, basiert Hunter S. Thompson zufolge auf einer Reise, die der Erfinder des Gonzo-Journalismus zusammen mit Oscar Zeta Acosta gemacht hat. Stilbildend wirken Thompsons Reportagen, die sich mühelos als Literatur behaupten, und Romane, die als Reportagen daherkommen, noch heute. Leicht zu erkennen daran, dass in Feuilleton-Texten häufig vom Wetter und vom Kaffee die Rede ist, den ihre Verfasser mit wer weiß wem getrunken haben, über den zu berichten sich lohnt. Doch Kaffee war vermutlich der einzige Upper, den Thompson alias Raoul Duke nicht im Kofferraum seines roten Hais hatte. | ANK
Hunter S. Thompson, »Angst und Schrecken in Las Vegas«, Heyne, 254 S., 8,95 Euro
1989 – BRUCE CHATWIN IM UMSTURZGEBIET
Von Bruce Chatwins Reisebüchern geht die tröstliche Botschaft aus, dass auch im Zeitalter unzerstörbarer Polycarbonat-Trolleys und des einklagbaren Rechts auf Überraschungslosigkeit am Urlaubsort das Reisen in fremde Länder immer noch zu Hautabschürfungen aller Art führen kann. Zwar besuchte Chatwin die Welt in den 70er und 80er Jahren, aber seitdem ist diese keineswegs stabiler geworden. Nach wie vor lässt sich in Reiche reisen, die kurz vor dem Untergang stehen, wie es die Geschichte »Die Wolga« in Chatwins in seinem Todesjahr 1989 erschienen Buch »Was mache ich hier« erzählt. Oder man kann unversehens in einen Putsch und binnen Stunden aus dem bequemen Hotel auf einen Kasernenhof geraten, wo man bis auf die Unterhose entkleidet den Schikanen von Soldaten ausgesetzt ist, die im Maß der eigenen Ratlosigkeit wachsen. Die Revolte, von der der Erzähler bis zuletzt nicht erfährt, wer da auf wen schoss, geschah Anfang der 80er in Benin; aber neulich hätte jedem dasselbe in Tunesien oder Ägypten passieren können. Vorausgesetzt, man ist Reisender und nicht Tourist. Als ein solcher, auch das lehrt dieses wunderbare Buch, sollte man vorher andere Bücher gelesen haben; nicht zwingend Reiseführer, sondern Bücher von oder über Menschen, die dort leben, wo man hinfährt. Sind doch die wahren Sehenswürdigkeiten nicht die Paläste und Kathedralen, sondern die Menschen: in Hongkong, Ghana, Marseille, Algerien, Kamerun, Peru, Yünnan. »What am I doing here« trägt kein Fragezeichen, denn Chatwin fühlte sich mit Selbstverständlichkeit als Nomade, einer Lebensform, deren Ruhm er ein Kapitel widmet: Ständige Bewegung, heißt es da, schafft Zufriedenheit. Und, wäre hinzufügen, hinterlässt Spuren wie die vom Yeti in Nepal, denen niemand nachforschen kann. | UDE
Bruce Chatwin, »Was mache ich hier«; Fischer Taschenbuch, 389 S., 19,95 Euro
2010 – ROGER WILLEMSEN AN DEN ENDEN DER WELT
Warum man reist, ist am endgültigsten durch die Tatsache beantwortet, dass der Mensch von Ostafrika aus zu Fuß die gesamte Welt bewanderte, außer dass ihn irgendeine Not dazu trieb als eben das Wandernmüssen. Doch von der Odyssee über die Aventiure-Fahrt und Grand Tour, die Pilger- und Selbstverwirklichungsreisen bis hin zu den Boat People von Lampedusa eint alles Reisen die Hoffnung auf Gewinn. Manchmal begibt sich einer in irgendein versprochenes Shangri-La und wird desillusioniert. Dass einer aber geradezu in die Enttäuschung hineinreist, reist, um enttäuscht zu werden, ist sonderbar und das Einzigartige an Roger Willemsens »Die Enden der Welt«.
Diese Enden sind Island, Tonga, Minsk oder Patagonien, Timbuktu, Bombay und Kamtschatka – insgesamt 22 Städte und Gegenden auf fünf Kontinenten. Aber das Buch ist kein Reisebericht im bekannten Sinne, alles was für den Touristen unerlässlich wäre, fehlt. Und das meint weniger die brauchbare Information, als das Versprechen des Reizvollen und Außerordentlichen, das Fernwehweckende. Wohin Willemsen reist, er reist an eine Endstation, er beschreibt Mühsal, und das Beschreiben selbst schwitzt die Arbeit aus, die es machte.
Doch ist das Buch auch kein Anti-Reisebericht, kein misanthropisches oder xenophobes Nie-wieder und Bloß-weg-hier. Denn geht es auch jedes Mal in die Sackgasse, so geht es auch jedes Mal darum, diese bis zu ihrem völligen Ende abzugehen und auszukosten. Die Sehnsucht, am Ende und damit endgültig anzukommen durchzieht jedes Kapitel; die, morbid oder suizidal unterzugehen, nicht; zwar kommt der Tod oft vor, aber es sterben die andern. Der Berichterstatter bleibt, auch seelisch, heil. Insofern ist »Die Enden der Welt« eine Reportage von vor allem spiritueller Art.
Das Initialerlebnis liefert ausgerechnet die Eifel des Herkommens, als der junge Roger am Neujahrsmorgen wandernd vor einem Schneefeld steht und ihn die Erkenntnis überkommt: »Hier ist nichts. Drehen wir uns um.« Fortan sucht er »Landschaften ohne Schauseite«, »in denen nichts beginnt und die sich vom Betrachter regelrecht abwenden«. Das Schlusskapitel bildet der Nordpol, jenes ortlose Nichts, wo die Fahrt an den von der Zivilisation weitest entfernten Punkt in eine unerträgliche Schiffsgesellschaft führt und wo Marga, die Frau dieser Expedition, sich von Bord wirft. Frauen nämlich sind fast immer dabei: als begleitender Schatten, als unrettbar Verlorene, als Synonym einer Landschaft. Somit sind die Reisen ans Ende der Welt auch Reisen in die unbegehbaren Zonen des Erotischen. Aus der Ferne Tokios breitet sich in der Phantasie der Telefonate die Möglichkeit einer langen Zugfahrt mit Christa quer durch Europa aus; in der Realität des Abteils zwischen Hamburg und dem sich endlos darbietenden Süden zerbröckelt die Weite mit jedem Kilometer mehr, der Raum verengt sich, Liebe wie Fahrt enden auf dem Felsen von Gibraltar.
Ein Ende ist der Asket Hanuman Baba am nepalesischen Fuß des Himalaya, der seit Jahrzehnten nichts tut außer kiffen und beten. Ein Ende ist die weißrussische Hauptstadt, eine Stadt voller Bräute: »In ihren Gesichtern sieht man, dass die Hochzeitsnacht eine Strapaze sein wird.« W. betritt ein Krankenhaus und setzt sich ans Bett eines Sterbenden. Er schreibt: »Jetzt bin ich angekommen.« Ein Ende die unvorstellbare Einsamkeit der unvorstellbar vereinzelten Bewohner von Patagonien; ein Ende die aids- und geisteskranke Mumtaz, die von ihrer Mutter in einem Bordell in Bombay vermietet wird: »eben noch nutzbar, Prinzessin der letzten Klasse der Menschen.« Aber was, wo herrscht auf der Erde das Ende nicht?
Es ist anstrengend, dieses Buch. Denn zwar ahnte man, dass der unablässigen Bewegung auf unserem Planeten, der grenzenlosen Verfügbarkeit von allem und Erreichbarkeit jedes Orts etwas gegenüberstehen müsse, ein Stillstand, etwas Unerreichbares, sich grundsätzlich Verweigerndes. Aber hier bekommt man den akribisch geschilderten Beweis dafür. | UDE
Roger Willemsen: »Die Enden der Welt«. S. Fischer Verlag, 542 S., 22,95 Euro.
2011 – HEINZ STRUNK AM POOL IN MOMBASA
In der Süddeutschen Zeitung stand es neulich schwarz auf weiß: »Kein-Erlebnis-Reisen sind am erholsamsten«. Das ist für Heinz Strunk und seinen Freund C. keine Neuigkeit. Die beiden fahren seit Jahren zusammen in den Urlaub mit dem erklärten Ziel, möglichst nichts zu unternehmen. Kein Sightseeing, keine Museumsbesuche, keine Rucksacktouren ins Hinterland. Auch diesmal verbringen sie ganze Tage an »Plumpspool«, Büffet und »Kaffeerund«, den zentralen Treffpunkten des Nyali Beach Hotel in Mombasa. Zwischendurch schreiben sie an einem Drehbuch, einem Thriller im Pudelzüchter-Milieu.
Das ist natürlich ein Strunk-Szenario, wie es im Buche steht. Leser älterer Romane wie »Fleisch ist mein Gemüse« oder »Die Zunge Europas« wissen es schon: Strunk hat ein Faible für kleinbürgerliche Spezialmilieus. Je geschlossener ihre Welt, desto besser. Seine Bücher werden bevölkert von Pudelzüchtern, Schützen, Jägern, Schlagersängern, Spielsüchtigen und sonstigen Zwangsneurotikern. Strunk analysiert ihre Marotten, ihre Vereinsmeierei und Sprache wie ein Ethnologe, der auf einen besonderen seltsamen Stamm in der Nachbarschaft gestoßen ist.
In seinem neuen Roman heißt der Stamm »Pauschaltourist«. Ein schöner Menschentypus ist es nicht. Aus Strunkscher Sicht ist das Nyali Beach Hotel eine einzige Freakshow. Da sind die englischen Sauftouristen, der vierzigjährige »Babyboy«, der mit seiner verfallenen Mama am Pool liegt, da sind die Wolfs, das streberhafte Lehrer-Ehepaar aus Deutschland, und viele, viele Rentner. Strunks Meisterschaft besteht darin, das Elend des homo touristicus in wenigen Strichen so zu skizzieren, dass man danach nur noch Reisen in einsame norwegische Fjordhütten buchen will. Die Komik in diesem Buch ist bitter, sehr bitter.
Diese Erbarmungslosigkeit der Beschreibung ist auch der Unterschied, der »In Afrika« von Tourismus-Satiren der Bestsellerfraktion (Tommy Jauds »Resturlaub« u.v.a.) abhebt. Hinzu kommt, dass Strunk und sein Begleiter dem Stumpfsinn um sie herum nichts entgegen setzten. Sie sind selbst kaum besser als ihre Liegestuhlnachbarn – und wissen das auch. Ihre Urlaubshighlights bestehen aus Gängen zum Büffet, aus Trash-Animation in der Hoteldisco und Rum-Cola an den Spielautomaten der städtischen Casinos.
Am Ende werden Strunk und Partner dann doch noch aus ihrem selbst gewählten low life gerissen. Nach einer manipulierten Wahl brechen in Mombasa Aufstände aus. Während draußen Schüsse fallen, müssen die beiden sich in einer kenianischen Zockerhöhle verstecken. Und plötzlich wird aus einer erlebnislosen Reise ein Trip ins Kriegsgebiet. Von Erholung ist da schon lange nicht mehr die Rede. | JUK
Heinz Strunk, »In Afrika«, Rowohlt Polaris, 270 S., 13,95 Euro
ZEITLOS: THEO FÄHRT NACH »WUUHDSCH« UND ANDERE REISEHITS
Eigentlich ist das eine blöde Idee, in Aachen in ein Taxi springen zu wollen und mit theatralischer Geste »Paris!« zu rufen. Kann eigentlich nur nach hinten losgehen. Vor allem, wenn ein kleiner fetten Kerl mit Rollkoffer schneller bei der schönen Fahrerin im Wagen sitzt und man deswegen stundenlang durch die Aachener Innenstadt streift, um Ersatz zu finden. Der Journalist Burkhard Strassmann weiß, dass es für eine solche Tour mehr braucht als einen Chauffeur – nämlich eine Gefährtin. Sonst ist die Stimmung weg, die Felix de Luxe 1984 in seinem NDW-Schlager »Taxi nach Paris« besungen hat – das abrupte Ausbrechen aus dem Alltag, eine schöne Frau und »französische Küsse«. Stattdessen Aachen an einem kalten Januarnachmittag.
»Taxi nach Paris« ist eines dieser Lieder, die sich in den Gehörgang fräsen und vor allem eins auslösen: Sehnsucht, drei Minuten und dreißig Sekunden lang. Schwierig und enttäuschend wird es erst, wenn man sich aufmacht, um den entsprechenden Ort in der Realität aufzusuchen. Dorothée Stöbener, Leiterin des Reiseressorts der Zeit, versammelt in »Reisehits« kurze Reportagen von Schriftstellern und Journalisten, die genau dies tun – nachschauen, wie es an den Sehnsuchtsorten aus den Liedern eigentlich so aussieht.
An der Straße nach San Fernando steht schon lange kein wartendes Mädchen mehr in der heißen Sonne, wie es einst Michael Holm in »Mendocino« beschrieben hat. Tomas Niederberghaus steht auf dem Highway 101 kurz vor Santa Rosa erstmal im Stau, und Mendocino, die einstige Hippie-Hochburg, hat den eigenen Mythos längst kommer-zialisiert. Wenn Holms Tramperin je dort war, dann ist sie längst weggezogen. Christoph Diekmann, der dem Irish-Folk-Hit »West Coast of Clare« von Andy Irvine nachgefahren ist, fragt auf den windumtosten Steilküsten, was man hier tun könne, und bekommt als Antwort: »Fish and Fuck. Bloß gibt’s im Winter nicht viel zu fischen.« Juli Zeh schickt Theo alleine nach Łódź, ohne Vicky Leandros, die in ihrem Schlager die Stadt dem Landleben vorzog. Aber ach – Łódź ist eine geschichtslose, 200 Jahre junge Industriestadt, geprägt von Plattenbauten und zehnspurigen Straßen und wird zudem nicht mitklatschtauglich »Lotsch« ausgesprochen, sondern »Wuuhdsch«. Hiddensee bekommt im tiefsten Winter Besuch von Evelyn Finger, die auf der Suche nach jenem Michael ist, der in Nina Hagens Urlaubshit einst »den Farbfilm vergessen« hat.
Natürlich wäre es naiv zu glauben, dass das gesungene Schlager-Wort irgendetwas mit der Realität zu tun haben könnte. Statt der Capri-Fischer schaukeln heute Flüchtlingsboote durchs Mittelmeer, und der »Griechische Wein« korkt mittlerweile auch. Dennoch bleibt da die Sehnsucht, etwas zu finden, das im Lied versprochen wurde, sonst wäre Peter Kümmel nicht mitten im November auf eine Insel der Azoren gereist, deren Diskos immer mehr verwaisen, weil die Jugend die Insel verlässt und sie von Touristen eher wenig beachtet wird; und die von Roland Kaiser dennoch wie folgt in der Bundesrepublik der 80er so unnachahmlich besungen werden durfte: »Santa Maria, nachts an deinen schneeweißen Stränden // Hielt ich ihre Jugend in den Händen // Glück für das man keinen Namen kennt«. | VKB
Dorothée Stöbener (Hrsg.), »Reishits – Wenn Ohrwürmer den Weg weisen«, Illustrationen von Daniel Matzenbacher, Corso-Verlag, 116 S., 19,90 Euro
2011: MIT TUI IN DEUTSCHLAND UNTERWEGS
»Deutschlands schönste Ecken« verspricht das Vorwort dieses 600 Seiten-Wälzers. In der Tat – idyllischer geht es kaum noch. Blühende Almwiesen, weiße Kreidefelsen, glitzernde Seen; Städte, die Bad Salzdetfurth oder Dippoldiswalde heißen. Könnte schön sein, wenn da nicht die Hotels wären, viele architektonische Scheußlichkeiten der 70er und 80er oder gleich als kleine Pseudodörfer gebaut, die einen historischen Stadtkern imitieren. Regionale Besonderheiten finden sich in verunglückten Namenskreationen wie »Travel Charme Bernstein Prerow« wieder. Anderswo haben Hotels äußerlich den Charme von Parkhäusern, ausgestattet mit rustikal-bräunlichen Frühstücksräumen sowie Kunststoffbügeln und abenteuerlich gemusterter Bettwäsche auf den Zimmern, von denen man gar nicht wissen will, was Kubricks Jack Torrance in ihnen angerichtet hätte.
Bei aller Instant-Romantik wird auch das Exotische gefeiert, wie die Spaßbadlandschaft »Tropical Islands«, die in einer 66.000 qm großen Halle untergebracht ist, in der früher Zeppeline gebaut wurden. Auch hier: Kulissen und Attrappen, für das »Tropendorf« wurden extra Originalbauten aus Thailand, Borneo, Bali und Samoa in das Berliner Umland geflogen. Und als Erinnerung kann sich Mutti im »Tattooshop« auf dem halleneigenen »Boulevard« ein neues Muster in den Steiß gravieren lassen. Für Menschen, die für einen Afrikaurlaub nicht unbedingt den Kontinent verlassen möchten, gibt es die Lüneburger Heide. Direkt an der Autobahn 7, Abfahrt Westerholz, warten Löwen, Tiger und Nashörner auf Besucher – in der »Serengeti Safari Lodge Hodenhagen«.
Sprachlich ist das Werk ein Kompendium der Adjektive, alles ist »be-haglich«, »modern«, »gepflegt« oder »romantisch«; dann wieder wird der Leser überrascht mit avantgardistischer Syntax: »Erm. in % / € Preis in € / 1–2 Vollz. 1 Erm. 2–11 Jahre – 100% / 12–14 Jahre – 50 %«. Schöner hätte es Arno Schmidt auch nicht ausdrücken können. | VKB
TUI Schöne Ferien, »Deutschland März–Okt 11«, Eigenverlag, 635 S., Gratis