TEXT: ULRICH DEUTER
Ob es Zufall oder Zeugnis historischen Bewusstseins war, dass die Firma Ford 1965 ihren neuen Kleintransporter »Transit« nannte – wer weiß. Name und Fahrzeug taugen jedenfalls perfekt zum Realsymbol für das »Projekt Migration« in Köln. Weshalb ein Exemplar des von Köln-Türken gebauten und vielfach von Deutsch-Türken morgens zum Großmarkt oder sommers in die Türkei gesteuerten Lieferwagens vor dem Kunstvereinsgebäude auf der Hahnenstraße parkt. Dass die moderne Gesellschaft ein Transitraum sei, ist nämlich Grundthese dieses von der Bundeskulturstiftung initiierten »Projekts«, das vor drei Jahren begründet und nun multi-ästhetisch an vier Orten der Kölner Innenstadt sowie gedanklich auf 800 Katalogseiten niedergekommen ist. Anlass: das erste Abkommen über die Anwerbung von Arbeitskräften (mit Italien) vor 50 Jahren.
Dies ist nicht die erste Ausstellung zum Thema Migration; aber wohl die bislang ambitionierteste. Wobei offen ist, ob die vielen Dutzend Videos, Großfotos, künstlerischen Installationen, Zeichnungen, Sammelobjekte und zeitgeschichtlichen Dokumente in den zahlreichen Ausstellungsräumen gewichtiger sind als der drei Kilo schwere Begleitband im Folioformat. Denn während in diesem (meist) renommierte Autoren zumindest all die gedanklichen Positionen beziehen, die in einem migrationsfreundlichen soziologischpolitischen Spektrum denkbar sind, ist die Ausstellung da, wo sie Geschichte dokumentiert, ordentlich, wo sie künstlerischen Standpunkten Raum gibt, hingegen oft mut- und einfallslos. So erinnern Dokumentaraufnahmen aus den 60er Jahren der Bundesrepublik sehr löblich an den Kampf der »Gastarbeiter« gegen die Diktaturen ihrer Heimatländer Griechenland und Portugal; so erregen Aufnahmen von den kasernierten Unterkünften, in die man die ersten Arbeitsimmigranten steckte, sowie Belege der menschenverachtenden Regeln, mit denen man sie traktierte, noch immer Scham. Fotografien von Türken im öffentlichen und im privaten Raum (Candida Höfer, Brigitte Kraemer), von Tauschwirtschaft auf Berliner Polenmärkten (Wolfgang Tillmans) sind ästhetisch hochwertige Produkte, verblassen jedoch auf nicht verdiente Weise angesichts des realen Lebens in der Migrationsgesellschaft direkt draußen vor der Tür – es hätten viel mehr sein müssen, um das fremde Leben mit den Mitteln der Fotokunst zu nobilitieren, aus der »Schwemme« Individuen zu machen. Und Ensembles von Saiteninstrumenten allochthoner Provenienz, von Kochtöpfen, Stofftieren und alten Schreibmaschinen laufen Gefahr, einfach Einwandererkitsch zu sein.
Dem Begriffskitsch ist zudem ausgesetzt, wer unterm Kunstvereinsdach den Forschungsraum des »kollaborativen transdisziplinären Forschungsprojekts« »Transit Migration« (eines Mitveranstalters) betritt, wo in aus Kopfhörern wispernden Endlosdiskursen wissenschaftssprachlich überdressierte Diskutanten Sehnsucht, Schweiß und Blut legaler und illegaler Migranten in gutmenschlichen Bernstein gießen und mit oberseminaristischen Nominalstilbeiteln ziselieren. Den Raum könnte die Grenzpolizei mieten, um potenzielle Flüchtlinge nach Europa im Vorfeld abzuschrecken.
Nun ist eine dauerhafte Beschäftigung mit der Kultur der Migration sowie mit den Kulturen der Migranten, sind Forschungen und Ausstellungen, ja ein Museum der Migration (siehe die folgenden Seiten) ein dringendes Postulat. Gerade in Nordrhein-Westfalen.
Das ist das Verdienst dieses Projekts; doch sein Anliegen, »Migration als eine zentrale Kraft für gesellschaftliche Veränderungen sichtbar und erlebbar zu machen« (Ausstellungsführer), kann es nur in der Theorie – im Katalog – einigermaßen erfüllen. Wäre das Ganze ein paar Jahre früher entstanden, als Deutschland noch »kein Einwanderungsland « war, man hätte es leicht gehabt, hätte auf sicherem Terrain stehend einfach den Arm gegen xenophobe Vorurteile erheben können. Spätestens nach Nine Eleven ist jedoch der Deckel von einem Topf geflogen, in dem neben neuer Ideologie auch ein paar knallharte Realitäten über das Zusammenleben zwischen Allochthonen und Autochthonen zu finden sind. Nun verwirrt das Problem Migration das zuvor vor allem links so schön übersichtliche Koordinatensystem: Die Folgen des Traditionsverlustes aller Beteiligter in Einwanderungsgesellschaften; die janusköpfige Rolle des Staates, der pauperisierte Menschen abweist, entrechtete schützt; das Third Generation Problem (die dritte Generation von Immigranten ver-fremdet sich wieder); Europa soll die Grundrechte für alle Flüchtlinge der Welt gelten lassen, aber es darf nicht eurozentristisch sein; oder die Frage zum Beispiel, warum in punkto Migration weiche Multikultis und harte Kapitalisten auf einmal dasselbe wollen – all dies und anderes Ambigues findet kaum einen gedanklichen und gar keinen künstlerischen Ausdruck in Köln.
Nicht einmal der begriffliche Common Sense ist immer unabweisbar umgesetzt: Die Installation »Interior« von Vlassis Caniaris (von 1974) etwa, die das Wohnen in der Fremde als den Sperrmüll des allseitigen Herausgefallenseins bloßstellt, erweist sich ob ihrer verbrauchten künstlerischen Mittel als wenig hilfreich. Und ein Video wie »Door« von Ene-Liis Semper, das in der Endlosschleife eine spaltbreit geöffnete Tür zeigt, die am Ende geschlossen wird, ist ein wohlfeiler Kommentar zu allem und nichts. War es die Ängstlichkeit irgendeines kleinsten gemeinsamen Nenners, die starke Positionen vermeiden ließ? Das Großdia eines Volkswagens »Variant« mit Kennzeichen Starnberg, der, Gepäck auf dem Dach, durch irgendeine Berglandschaft fährt, wirkt zunächst wie ein Urlaubsfoto unserer Eltern – hat man drei Stunden lang im Katalog gelesen, Theorien über neue Mobilität, die Mechanismen der Erzeugung und Steuerung individueller und kollektiver, mentaler und physischer Beweglichkeit in immer neuen gedanklichen und geografischen Räumen studiert – dann erscheint das Dia plötzlich wie ein stimmiger Kommentar zum Gesamtproblem. Egal, ob drinnen Bayern oder Türken sitzen, alles ist Migration. Auch das Transsexuelle lässt sich darunter fassen, wie ein Video (»Candan«) im Kunstvereinssaal weismachen will.
So drückt sich der Ausstellungsteil von »Projekt Migration« einerseits um die wahren Bruchkanten herum, bringt aber auch nicht die Kraft auf, die banal-vitale Selbstverständlichkeit des Lebens der Migranten unter uns zu zeigen: von Menschen, die höchstens anders sind, insofern sie in einer längst aus lauter Andersheiten bestehenden Gesellschaft leben. Eines der wenigen Beispiele solcher Selbstverständlichkeit ist das Video eines Migranten- Raps der Migranten-Band Advanced Chemistry (im Gebäude am Hahnentor): Da singen sie vom Ausländersein samt Problematik so selbstverständlich wie Frauen vom Frausein reden.
Der Aussage nach brav, in der Idee jedoch witzig und zugleich erhellend ist die Video- Installation »Tatort Migration 1-10« des Wiener Filmemachers Gustav Deutsch (im Erdgeschoss des Crowne Plaza): zehn Monitore, auf denen simultan Sequenzen aus 78 »Tatort«-Folgen laufen, jeweils minutenlange, hart aneinander geschnittene Szenen, in denen es auf irgendeine Weise um Migranten geht. Da zieht der südostasiatische Rosenverkäufer durchs Abendlokal; säubern türkische Putzfrauen das Präsidium; wird der böse Asylantrags-»Entscheider« vom guten Kommissar in die Schranken verwiesen; drängeln sich verängstigte Menschen südlichen Aussehens in Schleuser-LKWs; überwindet das gemischtkulturelle Liebespaar allseitige Ressentiments. Und immer wieder stellt jemand die Frage: »Wo haben Sie eigentlich so gut Deutsch gelernt?«
Seit 1970 gibt es den »Tatort«-Krimi, im ersten Jahrzehnt zählte Deutsch nur 11 Folgen, die sich mit Migration befassten. In den 80er Jahren waren es schon 24, die 90er dann brachten es auf 46, deren 28 gar diese Problematik zum Hauptthema des Plots nahmen. Der »Tatort« spiegelt mittlerweile dreieinhalb Jahrzehnte bundesdeutscher Alltagsrealität; dennoch ist, historische Entwicklung im Umgang mit Migration zu zeigen, nicht das Anliegen dieser Videoinstallation, die ihre Zusammenschnitte nach Motiven ordnet: »Menschenfracht«, »Culture Clash«, »Arbeitskräfte«, »Law und Order« usw. Eine Analyse entsteht so nicht, wohl aber ein sinnfällig-amüsanter Beweis, wie stark Migration ein Thema dieser beliebten Krimireihe abgibt; und wie dennoch meist lediglich Abbreviaturen fremder Kultur daraus werden, der Schuss Exotik im routinierten Gewebe.
Multikulturalismus als politisches Konzept, sagen Daniel Cohn-Bendit und Ulrich Beck offen (im Katalog), kann nicht gelingen. Migration, sagt die Ausstellung ungewollt, ist vor allem ein Problem. Vor welchem Denkmodelle, politische Orientierungen und staatliche Handlungsmuster versagen. Vor dem auch hochmögende Ausstellungen ziemlich hilflos die Arme fallen lassen.
Kölnischer Kunstverein und weitere Orte in Köln, bis 15. Januar 2006. Katalog 48 Euro. Tel.: 0221/ 8697647 www.projektmigration.de