Lothar Baumgarten gehört zu den berühmtesten und zugleich unbekanntesten Künstlern Deutschlands. Vier Mal nahm er an der documenta teil, 1984 erhielt er auf der Biennale in Venedig den Goldenen Löwen, seit 1992 ist der ehemalige Beuys-Schüler selbst Professor in Berlin. Von seinem Düsseldorfer Zweitsitz aus organisierte der 62-Jährige jetzt seine bislang größte deutsche Retrospektive im Museum Kurhaus Kleve: ein Parcours durch fast 40 Schaff ensjahre seit seinen Anfängen am Rheinufer zwischen Düsseldorf und Köln. Seine Kunst wirkt sehr fern und ist doch aktueller denn je. In Zeiten eines neu entbrennenden Kulturkrieges geht er auf wunderbar zurückhaltende, beobachtende Weise den Verbindungen der Kulturen in der Welt nach. Was Baumgarten zur Ausnahmeerscheinung macht, ist seine Spurensuche nach einer wechselseitigen Beeinfl ussung der Bilder, mit der er sich auf dem schmalen Grat von Wissenschaft und Kunst bewegt.
Zwischen 1967 und 1974 entstanden Diabilder, die in dichter Folge auf einem langen Leuchtkasten ausgelegt sind. Die Arbeit »Archiv« suggeriert in ihren Bestandteilen ein tropisches Naturidyll mit schwebendem Licht, zarten Vogelstimmen, bemoostem Wasser, springenden Fröschen, aufgebrochener Baumrinde und einer insgesamt romantischen Attitüde. In dieses Milieu platziert er selbst fabrizierte Urwaldblätter, einen Autoreifen als Gürteltier, einen Schlauch als Schlange und einen Tetraeder aus rotem Pigment. Ist dies unser Bild vom Amazonas, sehen wir so den Urwald? Aber das Eldorado ist eine manipulierte Realität – tatsächlich ein abgelegenes verschmutztes Gebiet am Altrhein. Dieses Spiel mit Standorten, das letztlich auch unsere Klischees vor Augen führt, soll Baumgarten lebenslang begleiten.
1972 tauchte Harald Szeemann auf Empfehlung von Beuys im Atelier des Künstlers auf und katapultierte den 29-Jährigen an die Weltspitze. Baumgarten verschwand aus Deutschland – 1978 lebte er bei den Yanomami-Indianern des oberen Orinoco und wurde Teilhaber einer Kultur, die nur spärlich in den undurchdringlichen Wäldern überlebte. Baumgarten teilte mit den Ureinwohnern ihre Märchen, ihre Natur, ihre Tiere. Beim zweiten Aufenthalt dann fotografi erte er ihre Riten. Johannes Cladders, damals Museumschef in Mönchengladbach, brachte ihn 1984 nach Venedig. »Was hast du geträumt? Ich glaube, ich habe im Traum auf einem Regenbogen geschlafen«, hieß es in dem dort erschienenen Katalog: Baumgarten perpetuiert sein Denken in Bezügen. Das kleine Indianerdorf an der Küste auf einer Landzunge im Meer sah wie Venedig aus, also nannte man es Venezuela. Er übertrug nun die Topographie von Venezuela zurück nach Venedig. Eine Einlegearbeit im Boden des Venedig-Pavillons stellte Amerika dar, aber vor seiner europäischen Klassifi zierung. Baumgarten pfl egt zu geben und zu nehmen. Er entdeckte die Typologie venezianischer Schornsteinköpfe, in einer Buchedition bringt er sie jetzt für Kleve in die Erinnerung zurück, nachdem sie zuvor, 1992, in Haus Esters in Krefeld zu sehen waren.
Stets sucht er nach einem neuen Verständnis zwischen den Welten, Bildern, Mythen, fragt nach Identität. Der Höhepunkt dieser Untersuchungen ist aufs engste mit dem Fürsten Johann Moritz von Nassau- Siegen verbunden, dem späteren brandenburgischen Statthalter in Kleve, der von 1637 bis 1644 für die niederländische Westindische Compagnie als Gouverneur in Recife tätig war und durch seine frühe Erforschung Südamerikas Ruhm erlangte. 150 Jahre lang, bis zu den Forschungen Humboldts, prägten die wissenschaft lichen und künstlerischen Erträge seiner Expedition das Bild Südamerikas in Europa.
Mit ihm reisten die niederländischen Maler Franz Post und Albert Eckhout, die Moritz 1653 dem Kurfürsten von Sachsen empfahl, woraufh in Eckhout die Decken in einem Schloss bei Dresden mit 80 brasilianischen Vögeln bemalte. Baumgarten fand heraus, wie diese Motive im gesamten 17. Jahrhundert die Vorstellung von der brasilianischen Fauna in der europäischen Kunst bestimmten. Baumgarten zeigt jetzt eine Diaprojektion, parallel zu den projizierten Zeichnungen der Indianer, und verzahnt auf seine Weise den historischen Kulturtransfer. 1988 entstand »Imago Mundi«, Bezug nehmend auf die bekannte Farbmusterkarte von Kodak, die die Welt in die Farben Magenta, Yellow, Cyan und Schwarz einteilt. Das Hilfsmittel für die Anfertigung fotografi scher Abzüge im Vierfarbdruck fi xiert unsere Abbilder und dominiert damit unsere Bilder. Baumgarten gelingt es, das Thema Kolonisierung, Globalisierung und Farb-Eroberung zur Einheit zu bringen, indem er die Kodak-Farben auf Folien auf die Fensterscheiben des Museums klebt und so Lichtdias schafft, die mit der Sonne den Raum durchwandern. Was auch immer wir sehen, wir haben Farb- Filter vor dem Auge.
Die Ausstellung beginnt mit der »Montaigne-Serie« (1977 bis 1985), einem fotografischen Konzentrat der Landschaft im Norden Brasiliens, wobei sich Baumgarten als herausragender Fotograf in den feinen Abstufungen der Grauwerte und im distanzierten Blick auf die Motive erweist. Kein koloristischer Schnickschnack, kein Farbzauber. Die Fotos sind in dunklem Holz gerahmt, so dass sie wie künstliche Natur-Zitate erscheinen und den Ur-Verlust der Natur im Zugriff der Kamera gleich mitliefern.
Ob »Ursprung der Nacht« (ein Film von 1973-78) als fiktive Reise durch eine manipulierte Natur, ob die »Moskitos« von 1968, die die kreisende Bewegung der Stechmücke mit kleinen holländischen Brötchen, den Amsterdammertjes, und Taubenfedern nachstellt, oder die vergessenen Objekte der ethnografischen Sammlung in Oxford, die auf der documenta 9 gezeigt wurden: Immer betrifft es die Überlagerung von Geschichte, Bildern, Gedanken.
Den Abgesang macht das »Doppelpendel« von 2002/2003, ursprünglich für einen Kreuzgang im toscanischen Montalcino entstanden. In Kleve ist die Arbeit in den Arkaden des Museums zu sehen: ein Farbkonzentrat aus den Gemälden der Renaissance-Maler von Giotto bis Fra Angelico, Masaccio bis Uccello. Mit Hilfe von Spiegeln holt Baumgarten zugleich die Realität – Stämme und Gräser am Hang hinter dem Museum – mit ins Haus. Es gibt aber auch frei gelassene Spiegel, in denen sich das Bild des Besuchers bricht – und sich auf Schritt und Tritt mitsamt dem der Kunst und der Natur verändert. //
Museum Kurhaus Kleve, Tiergartenstraße 41, 47533 Kleve, bis 14. Mai 2006, Tel.: 02821 / 75010; es erscheinen drei Publikationen zur Ausstellung: AIR (über die Kamine von Venedig), 28,50 Euro; See Other Side (über Imago Mundi) 12 Euro; ein Künstlerbuch ist in Vorbereitung. info@museumkurhaus.de