Text: Andrej Klahn
Gibt es eigentlich trostlosere Fragen als die, wie nahe das gute alte Theater den schlechten neuen Realitäten überhaupt noch zu kommen vermag? Natürlich ließe sich darüber in Schauspiel-Kantinen aufgeregt und endlos streiten. Öde ist das eigentlich nur, weil sich dabei immer die zu Wort melden, die von morgens bis mitternachts auf den Brettern hocken, die sie mit der Welt verwechseln. Es wäre an der Zeit, die Frage einmal andersherum zu stellen. So vielleicht: Ist die Welt noch dafür geeignet, auf der Bühne ein-, her- oder sonst wie gerichtet zu werden. Oder ganz einfach: Wie theatertauglich sind die Wirklichkeiten, in denen wir leben, überhaupt noch?
Aufschluss darüber könnte eine Inszenierung geben, die Lukas Matthaei zurzeit am Düsseldorfer Forum Freies Theater vorbereitet: »Vom richtigen Leben 2: Portraits der Menge«. Sie wird im Rahmen der Reihe »New Realities – Theater und globales Wirklichkeitsdesign« zu sehen sein. Es ist nach »Geschichte wird gemacht (es geht voran)«, mit der Kathrin Tiedemann im Herbst 2004 ihre erste Spielzeit eröffnete, »Mein naher Orient«, »Vom richtigen Leben« und »Eure gefährlichen Orte« bereits die fünfte Arbeit, die der in Berlin lebende Regisseur am FFT herausbringt. Eine Art Theatralitätstest für die »new realities«. Eine dem Konzept nach klug arrangierte Versuchsanordnung, die brennglasartig eine ganze Menge von zentralen Herausforderungen und Schwierigkeiten in den Blick bekommt, an denen sich das zeitgenössische Theater zurzeit abarbeitet.
Weiß gekachelt ist der Boden der Bühne in den Kammerspielen, auf die Matthaei seine »Portraits der Menge« stellen wird. Portraits, die abbilden sollen, ohne zu imitieren. Die intensive Probenphase hat erst vor ein paar Tagen begonnen. Derzeit steht im Hinterbereich des niedrigen, unverhältnismäßig breiten Raums ein Monitor. Er zeigt ein nahezu bewegungsloses Gesicht: Marc, den Matthaei in videogeloopter Form aus dem richtigen Leben herauf auf die Bühne geholt hat. Marc ist Darsteller seiner eigenen Geschichte. Gemessen an dem, was ein Großteil dieser Gesellschaft für erstrebenswert hält, lässt die sich bislang nicht gerade erfolgreich an. Schlechte Noten in der Schule, auf Drängen der Eltern zum Textilveredler ausgebildet, Fotograf für ein Stadtmagazin. Stimmungsaufhellende Rauschmittel jeglicher Art. Später Kellner in einem »Heavy-Metal-Schuppen«, Teamleiter bei der Metro. Dabei immer auf der Suche nach einem Lebensentwurf jenseits der »Verwertungslogik«.3 Mit etwas Zynismus ließe sich behaupten, dass Marc an einer zu großen Portion Idealismus leidet. Doch er leidet nicht. So wie all die anderen nicht, die Matthaei für den ersten Teil von »Vom richtigen Leben« interviewt hat. Sie alle haben sich auf ein im Stellenmarkt geschaltetes Inserat hin gemeldet und in ausführlichen Gesprächen vom (Über-)Leben in einer zunehmend heilloser flexibilisierten Arbeits- und Lebenswelt berichtet. Gemeinsam ist ihnen, dass sie auf ein einschneidendes Erlebnis in ihrem Leben zurückblicken können. Sie haben Nehmerqualitäten entwickelt, mussten parieren, was man auch heute noch leichthin »Schicksalsschläge« nennt, ohne dabei genau angeben zu können, in welchem Namen derlei Prüfungen auferlegt werden.
Matthaei selbst beschreibt die Aufmerksamkeit, die er den Portraitierten entgegenbringt, als eine »frei schwebende«. Es gehe ihm nicht darum, moralisch zu werten, was sie ihm erzählt haben. Viel mehr interessiere er sich für die ganz konkreten Formen von Glück, die sich auch dann noch finden lassen, wenn weit greifende Sehnsüchte sich nicht erfüllt haben. Und um die Findigkeit, durch die die Menschen ungewollt zu Spezialisten der Krisenbewältigung geworden sind. Das dokumentarische Material, das Matthaei in »Vom richtigen Leben 1« als begehbare soziale Plastik im Stadtraum angeordnet hat, ist nun Ausgangsbasis für die Fortsetzung des Projekts. Dabei spielen – von den Videoportraits und gelegentlichen Toneinspielungen abgesehen – die Portraitierten physisch keine Rolle mehr. Denn das in den Erzählungen aufgehobene Leben soll in »Portraits der Menge« mit einer Tänzerin, einer Schauspielerin und zwei Schauspielern nach den Regeln der Kunst zusammengesetzt, inszeniert und zurück auf die Bühne geholt werden. »Wenn ich mit Schauspielern arbeite, schließe ich einen symbolischen Vertrag, der mir und ihnen erlaubt, Grenzen auszuloten. Das ist mit Laien als Darstellern ihrer selbst so nicht möglich. Denn die muss ich – wenn ich meiner Verantwortung als Regisseur gerecht werden will – schützen. Sie dürfen nicht die Kontrolle über die Situation verlieren.«
Am Abend auf der Probe dann: Selbstentblößung nach dem »Reise nach Jerusalem«-Prinzip. Je nachdem, welchen Platz auf der Bühne die Akteure gerade einnehmen, improvisieren sie am Mikrophon nach vorgegebenen Regeln. Sie erzählen sich Witze, sprechen über ihre realen und ausgedachten Selbstzweifel. All das wird, wenn es im September fertig ist, so wohl nicht zu sehen sein. Zurzeit ist dieses geregelte Spiel mit dem Zufall noch eine Lockerungsübung für die simulierte Backstage-Situation, mit der »Portraits der Menge« beginnen wird. Später soll der Zuschauer dann Schauspieler sehen, die Schauspieler spielen, die darauf warten, Menschen aus dem richtigen Leben zu portraitieren. Genau das werden die vier dann im zweiten Teil des Abends machen und dabei versuchen, die neu montierten Interviewtexte bis in die »Ähs« und »Hms« hinein möglichst genau nachzusprechen. Nun ließe sich leicht einwenden, dass Matthaei hier ein kompliziertes Arrangement ausgetüftelt hat, um einmal mehr auf die Künstlichkeit des Mediums Theater hinzuweisen. Gleichwohl ist er weit davon entfernt, sich in der Geste des Dekonstrukteurs zu gefallen. Entscheidend sei für ihn, gerade durch »das Ausstellen der Mittel eine emotionale Wirkung zu erzielen. Mich interessieren Momente, die eine hohe Intensität haben. Deshalb muss ich mich zu den Figuren und zum Medium bekennen können. Ich kann mich nicht auf eine antipathetische Position zurückziehen, durch Ironie und Zynismus auf Distanz gehen.«
So ist »Portraits der Menge« dann also nicht nur ein Versuch, den Alltag auf seine Bühnenfähigkeit hin zu testen. Mehr noch lässt sich darin eine Rückeroberungsaktion erkennen, die es darauf anlegt, ein vom postmodernen Mainstream längst verlassenes Terrain wieder urbar zu machen. Er wolle den Zuschauer berühren, ihn nahe an die Figuren zoomen, sagt Matthaei. Als wolle er sich dann aber doch gegen eine naive Interpretation dieses Bekenntnisses absichern, fügt er noch hinzu: »Das geht nur durch die Reflexion auf das Medium.« //
8. u. 9., 14. u. 15. Sept. im Forum Freies Theater .Tel.: 0211/87 67 87 18, www.forum-freies-theater.de