TEXT: ANDREAS WILINK
Falsche Auslieferung. In Mumbai werden zum Mittagessen Behälter mit portionierten Mahlzeiten an die Angestellten großer Firmen verteilt. Bei den komplizierten Wegen, die die von Garküchen oder von Hausfrauenhand gefertigten, von einem sogenannten Dabbawalla abgeholten Gerichte nehmen, kann es schon mal zu Verwechslungen führen. Aber auch ein falscher Zug kann in den richtigen Bahnhof münden, wie ein indisches Sprichwort sagt. Am Anfang von Ritesh Batras wunderbarem, lebensklugen Film verfolgt die Kamera die »Lunchbox«, die Ila (Nimrat Kaur) für ihren Ehemann mit besonderer Sorgfalt und nach Tipps ihrer Nachbarin, deren Mann im Koma liegt und anscheinend nur noch mit dem Decken-Ventilator zu kommunizieren scheint, vorbereitet hat. Denn Liebe geht durch den Magen. Und ihr Gatte Rajeev behandelt sie gleichgültig und wie ein Requisit im gemeinsamen Haushalt. Irrtümlich kommen die auf mehrere Etagen gestapelten Essens-Schüsseln bei Saajan (Irrfan Khan) an, einem älteren, verwitweten Versicherungs-Sachbearbeiter, der kurz vor der Berentung steht. In sich gekehrt und unwirsch, ist mit ihm nicht gut auszukommen. Das kriegen seine Kollegen ebenso zu spüren wie die Kinder auf der Straße, denen er das Spielen vor seinem Haus untersagt. Als er seinen jungen Nachfolger Shaikh (Nawazuddin Siddiqui) einweisen soll, lässt er den auflaufen.
Aber da ist nun das überraschend köstliche, fein gewürzte, abwechslungsreiche Essen, das doch sonst so fad und eintönig schmeckte. Saajans Sinne reagieren, und mit dieser Sensibilisierung verändert sich sein gesamtes Verhalten, auch Shaikh gegenüber, der bald in der Mittagspause in der Kantine von den Speisen etwas abbekommt und nicht mehr nur Bananen verputzen muss. Saajan wird ihm zum väterlichen Freund. Der Lunchbox werden Zettelchen – Love Letters –beigelegt, durch die Ila und Saajan in Kontakt treten und sich gegenseitig ihr Herz ausschütten, so dass beide ungeduldig auf die nächste Botschaft zu warten beginnen. Und sich mehr versprechen. Es ist eine schöne Geschichte, die von Einsamkeit, Alter und Tod, Zuneigung, Verzicht, Hoffnung, Trost und Trauer über Verlorenes erzählt, davon, dass Entsagung und Verkümmerung nahe beieinander wohnen, und dass wir Dinge, die wir niemandem erzählen können, vergessen. Gleichzeitig erfahren wir eine Menge über den Alltag in Mumbai – sehr verschieden von dem, was in Danny Boyles »Slumdog Millionär« so spekulativ geschürt wurde.
»Oh Boy«; Regie: Jan Ole Gerster; Darsteller: Tom Schilling, Friederike Kempter, Marc Hosemann, Michael Gwisdek, Ulrich Noethen; Deutschland 2012; 82 Min.; Start: 1. November 2012.