Es gibt bekanntlich Romane, die so raffi niert sind, dass sie ihrem Leser immer schon einen Schritt voraus zu sein scheinen, die einem ständig signalisieren: »Wenn Du meinst, mich verstanden zu haben, ist auch das Teil dieser kleinen Versuchsanordnung.« Man könnte dies das literarische Hase-und- Igel-Prinzip nennen. Mag sich der Leser auch noch so sehr mühen, sobald er sich am Ziel wähnt, heißt es »Ich bin schon da!« – und er wird wieder in die andere Richtung geschickt. Gute Krimis funktionieren so. Der Mann, der zu den versiertesten unter den Igeln gehört, ist mit seinen Brenner-Romanen einer der großen Meister dieses Genres. Ein Igel, der Haas heißt.
In Wolf Haas’ »Das Wetter vor 15 Jahren« würde die »Literaturbeilage« genannte Interviewerin angesichts solch erbärmlicher Wortspielchen sofort und natürlich vollkommen zurecht auf die »Kalauerfreie Zone« verweisen, die sie und ihr Dialogpartner vergeblich ein Gespräch lang aufrecht zu halten versuchen. Sie befragt einen Schrift steller, der auf den Namen »Wolf Haas« hört und off ensichtlich vor nicht allzu langer Zeit ein neues Buch vorgelegt hat. Eine Liebesgeschichte, die so Nerven aufreibend wie ein Kriminalroman ist, zugleich rührselig an der Grenze zum Kitsch, voll aufgestauter Leidenschaft und heimlich vergossener Tränen. Ein großartiges Buch also. Selbstverständlich möchte kein Schrift steller, der etwas auf sich hält, einfach nur rührselige Bücher voll aufgestauter Leidenschaft und heimlich vergossener Tränen schreiben. Wolf Haas hat das auch nicht getan. Das Werk wurde ja von »Wolf Haas« vorgelegt, der, wie er der »Literaturbeilage« erzählt, die Krimis aufgegeben hat, weil Rezensenten in der Regel ja immer den Schluss verraten. Da diese Regel keine Ausnahme duldet, sei hier einzig schon mal kurz angedeutet, dass »Wolf Haas’« Geschichte zur Zufriedenheit nicht nur der Helden, sondern auch der Leser endet: mit einem Kuss. Was der Rezensent in diesem Fall aber mit gutem Gewissen ausplaudern darf, weil er am Anfang von »Das Wetter vor 15 Jahren« steht. Dort diskutiert man in gebotener Ausführlichkeit, ob dieser Kuss nun akribisch oder gar pedantisch, vielleicht auch technokratisch oder doch romantisch beschrieben wird. Das angemessen zu beurteilen vermögen aber nur zwei: »Wolf Haas« und die Dame von der »Literaturbeilage «. Denn Einblicke in den Roman, der in »Das Wetter vor 15 Jahren« ausgelegt und kritisiert, gelobt und verteidigt wird, erhält der Leser allein durch das Gespräch der beiden.
Wenn der Beigeschmack nicht so bitter akademisch wäre, ließe sich dieses Verfahren mit einem Wort auf den Begriff bringen: »Metafiktion«. Doch ist Haas’ Roman mehr als nur ein intelligent verschachteltes Arrangement, das den Leser vom ersten Satz an (»Herr Haas, ich habe lange hin und her überlegt, wo ich anfangen soll.«) auf das glatte Parkett selbstrefl exiver Doppelbödigkeit zieht. Obwohl oder gerade weil das Gespräch immer wieder abschweift , sich an vermeintlichen Nebensächlichkeiten aufh ält, dann wieder ins Grundsätzliche abgleitet, lässt sich der Forderung »Wolf Haas’« leicht Folge leisten: den Verstand an der Garderobe abgeben und hoff en, dass sich die beiden kriegen. Tatsächlich rückt die Ironie, mit der Haas in »Das Wetter vor 15 Jahren« seine Instrumente vorführt, die Beweggründe der Figuren abwägt und seine eigenen Obsessionen auf die Probe der Dame mit Hang zur Überinterpretation und fl otten Anglizismen stellt, die Figuren zunehmend näher an den Leser heran. Der hat so die einmalige Gelegenheit, dem Autor einmal bei der allmählichen Verfertigung der Figuren beim Reden zuzuhören, ohne dass die off en gelegte Konstruktion dadurch ihre Wirkung verfehlen würde. So ist Haas mit dieser »Geschichte zweier Regionen, wo die einen immer auf die Berge und die anderen immer in die Berge rennen« – Österreich und das Ruhrgebiet –, ein atemberaubendes und im besten Sinne zutiefst romantisches Buch gelungen.
Wolf Haas: Das Wetter vor 15 Jahren; Hoff man und Campe, Hamburg 2006, 224 S., 18,95 €