TEXT UND INTERVIEW: CHRISTOPH VRATZ
Die Pariser Uraufführung im Mai 1913 geriet zum Skandal. »Das Theater schien von einem Erdbeben heimgesucht zu werden. Leute schrien Beleidigungen, buhten und pfiffen, übertönten die Musik. Es setzte Schläge und sogar Boxhiebe.« So resümiert eine Journalistin die Premiere von Igor Strawinskys »Le Sacre du Printemps«. Bis heute hat das Werk nichts von seiner revolutionären Kraft eingebüßt. Das »Frühlingsopfer«, in dem Strawinsky »den panischen Schrecken der Natur vor der ewigen Schönheit« darstellen wollte, ist ab Ende Oktober Thema der Ausstellung »re-rite« im Dortmunder U. Zuvor sprach K.WEST mit Esa-Pekka Salonen über das Projekt.
K.WEST: Wieso haben Sie, um ein Orchester bei der Arbeit zu porträtieren, gerade den »Sacre« ausgewählt?
SALONEN: Wir haben nach neuen Wegen im Umgang mit den Neuen Medien gesucht. Um ein klassisches Orchester einem größeren Publikum vorzustellen, erschien uns dieser Strawinsky ideal. Das Stück hat damals Menschen den Kopf verdreht – und tut es heute im Grunde immer noch. Seine Modernität ist ungebrochen.
K.WEST: Vielleicht auch deshalb geeignet, weil der rein physische Aspekt des Musizierens beim »Sacre« besonders hervorsticht?
SALONEN: Ja, die Energie, die bei jeder Aufführung des Stückes sichtbar wird, lässt sich in Videos wunderbar einfangen.
K.WEST: Erstaunlich ist die Selbstverständlichkeit, mit der man die Bühne, auf der normalerweise getanzt und die eigentliche Geschichte erzählt wird, einfach vergisst.
SALONEN: Weil die Musik aus sich heraus stark genug ist. »Sacre« ist so komplex, dass es eine Visualisierung auf der Bühne nicht unbedingt braucht. Wir möchten mit der Installation ja nicht das Stück zeigen, sondern die Mechanismen im Innern eines Orchesters; wir wollen zeigen, welche Hochspannung diese Musik bei den mehr als hundert Musikern auslöst.
Zweimal wurde »re-rite« bislang öffentlich präsentiert, einmal in England und Anfang dieses Jahres in Lissabon. Nun folgt die Deutschland-Premiere in Dortmund. Ohne die modernen technischen Möglichkeiten wäre das Projekt kaum zu realisieren gewesen. Da inzwischen selbst kleinste Kameras hohe Qualität liefern, hat man bei rund einem Dutzend Musikern eine Mini-Kamera am Kopf befestigt und blickt so – wie ein Formel-1-Fahrer vom Cockpit auf die Piste – zum Dirigentenpult und in die Noten. Aus 40 bis 50 Positionen wurden Dirigent und Orchester eingefangen. Auf 28 Leinwänden ist das Ergebnis zu sehen. Passend dazu hat man die Akustik auf die Bilder abgestimmt. Die Instrumentengruppen und einzelne Stimmen wurden mit Spezialmikrofonen so abgemischt, dass sie, je nach Bildeinstellung, deutlicher hervortreten als die übrigen: gewissermaßen das individuelle Orchester.
K.WEST: Was im Orchester normalerweise gleichzeitig abläuft, ist nun auch nacheinander abrufbar. Ändert das nicht die Dramaturgie des Stückes?
SALONEN: Es ändert die Sichtweise auf das Stück. Jeder Betrachter kann selbst wählen, welchem Instrument er folgen möchte. Man kann sich der Klarinette anschließen oder der Schlagzeug-Gruppe. Gerade beim Schlagwerk kann man die Einsätze auch praktisch nachahmen, etwa an der Großen Trommel. Während der Präsentation in Lissabon habe ich zwei Damen beobachtet, beide um die 80, die beim Nachspielen des Schlagzeug-Parts ihren Spaß hatten.
K.WEST: Der Besucher wird, anders als im Konzert, nicht auf seinem Platz festgehalten, sondern kann sich innerhalb des Orchesters frei bewegen?
SALONEN: Ja. Es gibt außerdem einen eigenen Raum, in dem jeder sein individuelles Video-Mixing vornehmen und den »Sacre« bildlich nach Gusto zusammenstellen kann. Im Dirigentenraum kann man auch die Rolle des Orchesterleiters einnehmen. Einige kommen nur für fünf Minuten, andere bleiben fünf Stunden und wollen alles ausprobieren.
K.WEST: Wird der technische Aspekt dabei so weit in den Vordergrund gerückt, dass das sinnliche Vergnügen leidet?
SALONEN: Auch Technik ist in gewisser Weise nur Mittel zum Zweck. Was etwa fehlt, ist das Gemeinschaftsgefühl, wie wir es vom Konzert- oder Opernbesuch her kennen. Selbst ein Livestream kann das Live-Gefühl nur bedingt vermitteln. Doch die Übertragung von Opernaufführungen weltweit in Kinos zeigen, dass es einen Mittelweg gibt.
Mit Multimedia-Projekten hat Salonen bereits hinreichend Erfahrung gesammelt. Etwa als er Wagners »Tristan und Isolde« nicht auf eine konventionelle Bühne brachte, sondern das Werk in mehreren Städten, auch in Dortmund, konzertant aufführte, ergänzt um aufwändige Video-Installationen im Team mit Peter Sellars und Bill Viola. Nicht jedes Werk sei dazu geeignet, sagt Salonen. Gerade der »Tristan«, dessen Handlung weithin aus psychologischen Prozessen besteht, biete jedoch sinnvolle Ansatzpunkte für eine multimediale Deutung. Salonen erzählt, er habe bei sich zu Hause eine Zeitlang Teile aus dem Zweiten Aufzug und den Liebestod in Endlos-Schleife abspielen lassen, weil ihn die Bilder so stark berührt hätten.
K.WEST: Lenken Multimedia-Projekte den Hörer nicht ab, weil sie das Geschehen auf eine andere Ebene projizieren?
SALONEN: Nicht, wenn man diesen Ansatz als Basis für eine weiter gefasste Kommunikation mit dem Publikum betrachtet. Viele Probleme, die vor allem jüngere Menschen heute im Umgang mit klassischer Musik haben, sind der Tatsache geschuldet, dass die heutigen Medien die Faszination der Musik nicht hinreichend vermitteln, obwohl sie es könnten.
K.WEST: Liegt das nicht auch an der Musik selbst?
SALONEN: Warum? Sie bietet alles, um zu begeistern, egal ob bei Bach, Beethoven, Mahler oder Strawinsky. Was fehlt, ist ein Modul, das diese Musik mit unserer heutigen Kultur verlinkt. Multimedia aber ist eine solche Möglichkeit. Mehr als 80 Prozent aller Informationswege laufen heutzutage über die Neuen Medien, Internet eingeschlossen. Anders gesagt: Wenn Menschen etwas Neues erfahren wollen, sind Neue Medien unerlässlich. Warum also nicht auch bei der Vermittlung von Klassik?
K.WEST: Multimedia als Wundermittel?
SALONEN: Multimedia kann und soll nicht die traditionellen Aufführungsformen ersetzen. Es ist ein Zusatzangebot zur Erweiterung und Vertiefung. Durch den Einsatz von Multimedia ändert sich unsere Perspektive, die von uns Musikern eingeschlossen. Selbst wer den »Sacre« kennt, erhält durch »re-rite« einen völlig neuen Blickwinkel. Das kann kein herkömmliches Konzert leisten. Soll es auch nicht.
K.WEST: Wie sehr ist der Einsatz Neuer Medien an den jeweiligen Raum gebunden?
SALONEN: Es scheitert oft daran, dass sich nicht jeder Konzertsaal dafür eignet, weil die technischen Voraussetzungen fehlen. Deswegen ist es wichtig, Projekte zu entwickeln, die flexibel einsetzbar und nicht an einen bestimmten Ort gebunden sind. Dann bestünde auch die Möglichkeit, Musik an Orte zu bringen, an denen es keinen Konzertsaal gibt.
»re-rite«: 28. Okt. bis 20. Nov.; Dortmunder U; Eintritt frei; Konzerte mit Esa-Pekka Salonen und dem Philharmonia Orchestra bietet das Konzerthaus Dortmund am 11. und 12. Nov. 2011. www.konzerthaus-dortmund.de/re-rite. www.dortmunder-u.de/veranstaltung/re-rite