// Bisweilen ist es inhaltliche Unschärfe, die einer Äußerung erst die richtige Würze gibt: So bei dem Versuch des damaligen Fraktionsvorsitzenden der CDU im Bundestag, Friedrich Merz, im Herbst 2000 die erklärungsbedürftige »deutsche Leitkultur« in die Diskussion über die Änderung des Einwanderungsrechts einzuspeisen. Unter Verzicht auf die nationale Grundierung des Begriffs hätte Merz sich dabei auf den Politikwissenschaftler Bassam Tibi berufen können. Der versucht in seinem 1998 erschienenen Buch »Europa ohne Identität« die europäische Leitkultur als einen Wertekonsens aus Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft zu fassen. Doch Merz sprach eben nicht von einer westlichen oder europäischen, sondern von einer deutschen Leitkultur. Nicht nur der »Economist« zeigte sich irritiert, ob es sich dabei um eine »leading culture among Germans« oder eher doch um die »German culture that leads« handelte. Was also sollte da Form annehmen: der Führungsanspruch einer Kultur? Spielregeln für das Zusammenleben in einem Land, das sich lange Zeit einzureden versucht hatte, kein Einwanderungsterritorium zu sein? Ging es um ein zivilisatorisches Minimum für eine multikulturelle Gesellschaft? Um die Einhaltung geltender Gesetze oder die Bereitschaft, die deutsche Sprache zu erwerben? Oder sollte, wie ein Kritiker der »deutschen Leitkultur« damals fürchtete, die Verfassung so lange in die »ethnokulturelle Tiefe« gebogen werden, »bis sie in der vorpolitischen Tradition des ›Deutschen‹ Wurzeln schlägt«?
Heute fühlen sich die sieben Jahre, die seit dieser anschuldigungsreichen Diskussion vergangen sind, wie eine Ewigkeit an. Vertreter aller demokratischen Parteien sind sich mittlerweile weitgehend einig, dass »Multikulturalismus« eine gesellschaftliche Zustandsbeschreibung ist und keine positive oder negative Utopie entwirft, gegen die sich der interpretationsbedürftige Begriff einer »deutschen Leitkultur« in Stellung bringen ließe. Das Einwanderungsland Deutschland hat mit dem im Januar 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz einen ersten Versuch unternommen, sich dieser Realität auch rechtlich zu stellen. Die Gesellschaft, in der wir leben, ist nicht erst seit dieser Novellierung eine multiethnische, zumal in einem Land wie Nordrhein-Westfalen, wo vier der achtzehn Millionen Einwohner einen Migrationshintergrund haben.
Unter dem Titel »Meine Leitkultur« nahm das Kulturwissenschaftliche Institut Essen (KWI) im letzten Monat die Diskussion über den Wertekanon und die normativen Grundlagen des Zusammenlebens in Zeiten der Globalisierung erneut auf. Der streitbaren Necla Kelek, bekannt vor allem durch ihr autobiografisch gefärbtes Buch »Die fremde Braut«, oblag es in ihrem Eingangsvortrag, die Funken zu schlagen, an denen sich die anschließende Diskussion mit Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) und dem ehemaligen Direktor des KWI, Professor Jörn Rüsen, dann hätte entzünden sollen; wobei die Soziologin gleich zu Beginn ihres Statements keinen Zweifel daran ließ, dass es ihr nicht um Kultur im eigentlichen Sinne, noch um ihre persönliche Leitkultur zu tun sei, sondern um die »Rahmenbedingungen des Zusammenlebens«. Denn faktisch gebe es in Deutschland Parallelgesellschaften mit einer muslimischen Leitkultur, die mit der freiheitlichen Grundordnung des Westens nicht in Übereinstimmung zu bringen sei. Diese Tatsache, so Keleks vor allem gegen die Gemeinde der Migrationsforscher gerichtete Kritik, habe man lange nicht wahrhaben wollen: »Das Relativieren kultureller Unterschiede nach dem Motto ›Überall gibt es Ungerechtigkeit‹ führte zum Wegsehen und war nicht viel mehr als eine sich als Toleranz tarnende Ignoranz.«
Mit Verweis auf die Mehrheit der integrierten nicht-muslimischen Zuwanderer in Deutschland behauptete Kelek, dass nicht der soziale Status eines Migranten, noch seine ethnische Herkunft über das Misslingen der Integration entscheide, sondern vor allem die Zugehörigkeit zur Kultur des Islams. Muslime würden ihre Identität in Abgrenzung zu den Werten der Mehrheitsgesellschaft ausbilden und von Kindheit an mit Mitteln der »schwarzen Pädagogik« zur Unterordnung erzogen, was Kelek mit aus ihrer eigenen Biografie entlehnten Beispielen plausibel zu machen versuchte. »Wir haben es hier mit einer muslimischen Vorstellungen
folgenden Leitkultur zu tun, die als oberstes Prinzip den Gehorsam gegenüber Gott, gegen den Staat, gegen die Älteren, Männer und Brüder vertritt. Der Islam beansprucht als Offenbarungs- und Gesetzesreligion, alle Lebensbe-reiche zu regeln.« Eine Kultur aber, die die Herausbildung einer individuellen Persönlichkeit im Namen des Kollektivs verhindere, sei mit einer laizistischen, dem Prinzip der Aufklärung verpflichteten demokratischen Grundordnung nicht vereinbar.
Mit Verweis auf eine Äußerung des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan, der den Islam kürzlich als fehlerlos bezeichnete, zeigte sich Kelek skeptisch hinsichtlich des Evolutionspotenzials dieser Religion. Eine kritische theologische Auseinandersetzung finde de facto nicht statt. So konnte Kelek das Resümee ziehen, dass »der Islam als Weltanschauung und Wertesystem nicht in die europäische Gemeinschaft integrierbar und deshalb generell nicht als Körperschaft öffentlichen Rechts anzuerkennen ist. Es ist keine Frage des guten Willens. Es fehlen die institutionellen, strukturellen und vor allem theologischen Voraussetzungen dafür und seinen Vertretern eine – mit den Worten Jürgen Habermas’ – in Überzeugung verwurzelte Legitimation. Der Islam ist nicht integrierbar. Wohl aber der einzelne Moslem als Staatsbürger. Er kann in unserer Gesellschaft seinen Glauben und seine Identität bewahren, denn die europäische Toleranz der Aufklärung begreift die Angehörigen aller Religionen als gleichberechtigt, verweist den Glauben in die Privatsphäre, der öffentliche Raum ist hingegen säkular.«
Mit dem studierten Politologen Norbert Lammert antwortete Necla Kelek ein Politiker, der sich wiederholt für die Fortführung der Leitkultur-Debatte ausgesprochen und 2006 einen Sammelband zum Thema herausgegeben hat. Leitkultur wollte Lammert verstanden wissen nicht als Überlegenheits-, sondern als »Geltungsanspruch einer bestimmten Kultur in einer bestimmten Gesellschaft«. Denn: »Auch und gerade moderne Gesellschaften brauchen Verbindlichkeiten, ohne die sie die Voraussetzungen von Freiheit nicht einlösen können. Wenn in einer Gesellschaft alles gleichgültig sein soll, alles eben zunehmend gleich gültig wird, ist das Ergebnis, dass nichts mehr wirklich gilt. Dieses romantische Missverständnis von Multikulti als Gleich-Gültigkeit kultureller Differenz läuft in der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf die Verweigerung von Grund- und Menschenrechten hinaus.« Für eine in diesem Sinne verstandene deutsche Leitkultur wollte auch Lammert damit aber nicht plädieren, leite sich das Selbstverständnis unserer Gesellschaft doch im Wesentlichen aus abendländisch-westlicher Tradition her. Soweit Lammert wie Kelek. Während Kelek dem Islam jede historische Prozessualität absprach, verwies Lammert auf die Grundlegung der westlichen Zivilisation als interaktive Verbindung von Vernunft und Glaube. »Diese Verbindung im Sinne einer wechselseitigen Begründung und Relativierung ist in der bisherigen Kulturgeschichte einzigartig. Es hat sie vorher nicht gegeben und gibt sie außerhalb dieses Kulturkreises auch nicht.« Aus dieser Verbindung habe sich als »Gütesiegel der westlichen Zivilisation« eine Kultur des Zweifels herauspräpariert: »Unsere gesamte Konstruktion eines demokratischen Gemeinwesens beruht von der Logik der Legitimationsverfahren von Entscheidungen her auf der Bestreitung von Wahrheitsansprüchen. Dass es den Zweifel als Gütesiegel in anderen Kulturen nicht nur nicht gibt, sondern dass er gewissermaßen als Nachweis des Verrats an der eigenen Kultur verstanden wird, markiert besser als alles andere die kulturelle Differenz, die wir nicht übersehen sollten, wenn wir über multikulturelle Gesellschaften reden.«
Gern hätte man Necla Kelek zu der von Lammert behaupteten Offenkundigkeit befragt, die mit Abstand wichtigsten einzelnen Agenturen für die Bildung und Vermittlung von Werten und Orientierungen seien die Religionen. Doch es war an Jörn Rüsen, den leitkulturellen Konsens seiner Vorredner mit einigen kritischen Bemerkungen zwar nicht grundsätzlich zu verwerfen, aber doch die eine oder andere These mit Blick auf die historischen Tiefendimensionen der Diskussion zu hinterfragen. Zwar schloss sich Rüsen der Einschätzung an, dass die europäische Kultur ein Paradigma entwickelt habe, das einzigartig ist und universell gilt für alle Versuche, friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser Konfession gesellschaft-lich, kulturell und politisch zu organisieren. Lammerts Versuch, die Moral aus der Quelle der Religion speisen zu wollen, tat er hingegen als Irrtum der Aufklärung ab: »Religion und Moral sind im Blick analytisch-klarer Begrifflichkeit etwas ganz Verschiedenes. Uns muss es darum gehen, die Eigentümlichkeit des Religiösen herauszuarbeiten. Daran anknüpfend müssen wir die Frage stellen, welche Rolle die Religion in einer säkularen, zivilgesellschaftlichen Lebensordnung spielt, wenn sie nicht als Gefahr und als Störfaktor auftreten soll.«
Gegen Keleks Behauptung, der Islam sei ob seiner Modernisierungsresistenz nicht in die europäische Gemeinschaft integrierbar, führte Rüsen dessen historische Entwicklung ins Feld, nicht ohne auf die erbitterten Auseinandersetzungen zu verweisen, aus denen die westeuropäische Kultur hervorgegangen ist. Während Rüsen die Erlösungsfunktion als Alleinstellungsmerkmal und eigentliche Kernkompetenz des Religiösen herausarbeitete, warnte er zugleich davor, dessen »Kraft« zu unterschätzen. Gebe es doch Hinweise darauf, dass sich Religionen neu und zukunftsfähig formieren könnten. »Wenn es gelänge, aus dem Glauben heraus den anderen Glauben als notwendig und sinnvoll anzusehen, dann hätte die säkulare zivilgesellschaftliche Weltordnung einen ungeheuren Verbündeten. Das ist ein intellektueller Traum. Machen wir nicht den Fehler, diese kulturelle Kraft des Religiösen nur in Formen wahrzunehmen, in denen sie uns bedroht. In der Religion steckt ein Humanisierungspotenzial, das wir ausschöpfen können.« So herrschte zumindest an diesem Abend Einigkeit darüber, dass wer über Leitkultur spricht, von Religionen handelt. Offen bleiben musste allerdings, ob Religionen eine multikulturelle Gesellschaft in Richtung Zukunft zu orientieren vermögen – oder ob sie ihr größtes Hindernis auf diesem Weg sind. //