»Eines Abends, spät, in der Zukunft.« So lautet Becketts Regieanweisung für sein Solo »Das letzte Band«. Mit dieser Zeitbestimmung mag wohl Roberto Ciulli sein Ensemble auf den »König Lear« eingeschworen haben. Es ist vollbracht. Alles gewesen, alles erloschen. Auch das Augenlicht des Königs und der Seinen. Wer muss auch noch schauen, haben wir doch das Beste unserer Zeit gesehen. Brennende Finsternis auf der zum schwarzen Karree (Gralf-Edzard Habben) ausgeschlagenen Bühne im Theater an der Ruhr. Kein Fortkommen, die Schritte schaffen es über die mit Neonröhren begrenzte Randmarke nicht hinaus, stocken an der Wand aus Vorhang. Auch die Aufführung will über sich selbst und das Abspulen des eigenen Dramas der Väter und Söhne und Töchter nicht hinaus. Play it again, Lear. Wieder und wieder drücken die Mitspieler die Starttaste des alten Tonbandgeräts, das auf einem Tisch in dem bis auf wenige symbolische Requisiten kahlen Erinnerungsraum steht. Schachtel drei, Spule fünf. Da liegt alles drin, »der ganze alte Dreckball«, um noch einmal Becketts Krapp sprechen zu lassen. Es knarrt und knarzt zunächst im Dunkel, als würde mühsam etwas ein- oder ausrasten. Die Welt ist aus dem Lot. Der König dankt ab, entblößt sich der Macht. »Nichts« heißt in der auf zwei Stunden verknappten Fassung das erste Wort. Aus nichts wird nichts. Eine Negativformel. Ciulli inszeniert den »Lear« aus der totalen Verneinung, in Erstarrung und Verdämmern, szenische Bewegung, Emotionen und erzählerischen Gestus verweigernd und im Verzicht auf Heide und Sturm. Die Ver-Nicht-ung aus dem unfrohen Geist der Pantomime kennt nur wenige Tonarten: Dröge leiernd, ab und zu grimmig auffahrend, versteinert der König des Volker Roos, der schließlich mit Brei gefüttert wird wie ein Heiminsasse; mit Orakelstimme krächzt seine Cordelia (Simone Thoma); hündisch hechelt und röchelt Gloucesters Sohn Edgar (Steffen Reuber), indem er als lehmverschmierter Erdgeist umherwieselt. Es ist ein Tasten durch den grenzenlosen Kosmos von Shakespeares Dramen- und Wirkungsgeschichte und ein Sich-Klammern an die Form des Kommentars, der sich ans Abstrakte und Absurde hält. Am Ende ist’s ein Brummkreisel, der den Bastard Edmund (Fabio Menéndez) durchbohrt. Ein Kinderzirkus. Trotzdem, alles tot. Und die Lear-Maschine läuft ins Leere. AWI
Vernichtet
01. Jan.. 2007