TEXT: ANDREAS WILINK
Mücken aus sumpfigen Tümpeln, Rattenplage, stickige Kammern, kaum Hygiene, deren Geruchsreste man mit Veilchenessenz und Rosenwasser abhelfen muss. So die Rückansicht der prunkvollen Fassade von Versailles mit seinen Spiegelsälen, Staatszimmern und vergoldeten Empfangsräumen, wo das absolute Königtum den Adel an sich band, um ihn unter Kontrolle und in der Abhängigkeit von Privilegien, Gunst und Laune zu halten. Nichts wichtiger, als wem der König einen Blick oder eine Aufmerksamkeit beim täglichen Zeremoniell gönnt. Die Mahnung des Chronisten Moreau, dass das Volk ein leicht entzünd-barer Stoff sei, wird missachtet. Man wird sich bald zu Tode amüsiert haben – es ist der Juli 1789. Auflösung, Anarchie macht den Palast schon zum Gespensterschloss.
Am Morgen eilt Mademoiselle Sidonie Laborde (Léa Seydoux) als Vorleserin ins Trianon zur Königin, um ihr beim Lever mit angenehmer Bettlektüre gefällig zu sein. Marie Antoinette (Diane Kruger), die Österreicherin, wie die Franzosen sie verächtlich nennen, ist 34 Jahre alt. Nicht bös’, sondern das Produkt einer isolierten, der sozialen Realität entrückten Feudal-Kaste. Sie folgt ihren Kapricen. Man könnte von spätrömischer Dekadenz sprechen. Kleiderstoffe, Schnittmuster, Boutiquen-Firlefanz, Tand und Tändelei bedeuten alles und sind Ersatz. Wofür? Eine unglückliche Ehe, die rigorose habsburgische Erziehung, den Gehorsam wider Willen, unechte Freunde und das falsche Bewusstsein. Benoît Jacquot fragt nicht weiter nach, sondern begnügt sich damit, Marie Antoinettes Beziehung zur Herzogin Gabrielle de Polignac (Virginie Ledoyen), die von der Zuneigung der Königin profitiert und ihren parasitären Clan mit für die Staatsschatulle ruinösen Pfründen und Posten versorgt hat, zu melodramatisieren und zu erotisieren.
Die durchaus nicht nur keusche Liebe, die Sidonie ihrer Herrin entgegenbringt, ignoriert diese oder nutzt sie doch nur aus, indem sie die Getreue nötigt, die Rolle der Polignac bei der Flucht des als seine eigenen Lakaien verkleideten Ehepaars in die Schweiz zu spielen, um eventuell zum Köder für die Revolutionäre zu werden. Verabschiedet mit einem Judaskuss, entschwindet Sidonie aus der Geschichte, die für Ludwig XVI. und die Seinen das Schafott vorbereitet. Finanznöte, Teuerung, Impulse der Aufklärung, der frische Wind aus den Vereinigten Staaten von Amerika vor allem in Gestalt des Benjamin Franklin, Politisierung des Bürgertums und von Teilen der Aristokratie – nichts davon bei Jacquot. Er begnügt sich mit der Hintertreppen-Romanze und einer wenngleich glänzend besetzten und schönst ausgestatteten Ladenfräulein-Schnulze.
»Leb wohl, meine Königin«; Regie: Benoît Jacquot; Darsteller: Léa Seydoux, Diane Kruger, Virginie Ledoyen; Frankreich 2012; 100 Min.; Start: 31. Mai 2012.