TEXT: ULRICH DEUTER
Am 3. Mai 1664, 11 Uhr, »im Morgenlicht bestehen die Häuserfassaden aus Grau- und Brauntönen«, wird in Amsterdam eine Mörderin gehenkt, ein gerade 18-jähriges Mädchen. Am Nachmittag desselben Tages, »das Licht wird bereits etwas violetter und gelblicher«, packt ein alternder Maler ein paar Utensilien zusammen, lässt sich hinausrudern zu der Toteninsel Volewijk und beginnt den ausgestellten Leichnam zu zeichnen. Mehr als 300 Jahre später blickt eine Schriftstellerin auf die beiden verblichenen, unwahrscheinlichen Linien, die den Maler und das Mädchen ein einziges Mal zusammenführen, an einem Punkt, an dem das Leben zum Tod und der Tod zur Kunst wird. Das Mädchen heißt Elsje Christiaens. Der Maler Rembrandt van Rijn. Die Schriftstellerin Margriet de Moor.
Der Roman, der aus diesen drei Vektoren gebildet ist, heißt »Der Maler und das Mädchen« und zeigt die Niederländerin de Moor auf einem neuen Höhepunkt ihrer Kunst. Rätselhaft ist, warum die (historische) Elsje diese Tat beging; ebenso, warum Rembrandt (dessen Name im Roman nicht genannt wird), für den zeitlebens nur die Arbeit im Atelier galt, dieses eine Mal en plein air zeichnete und auch noch dieses Motiv. Die Rätsel löst de Moor nicht. Sie untersagt sich Spekulationen: Sie erfindet. Sie erzählt: Elsjes kurzes Leben, ihre Reise von Dänemark durch Schnee und Eismeer in die Weltstadt Amsterdam; Rembrandts langes Leben, den Konkurs, den Tod seiner beiden Frauen, die Arbeit an der »Judenbraut«, seine Melancholie an diesem einen Tag. De Moor malt: So wie ein Bild (von Rembrandt) aus vielen Blickwechseln besteht, aus Hell und nahem Dunkel, Oberfläche und unerkennbarer Bedeutungs-tiefe, geht die erzählende Stimme mal zum Mädchen, mal zum Maler und dabei – bis hin zum bewussten Anachronismus – immer vom erzählenden Heute aus. Ein anfangs unsicher wirkendes, immer fester werdendes Hin und Her, bis es am Ende – da hängt tot das Mädchen, da sitzt zeichnend der Maler – zur Ruhe kommt. »Was sie verbindet, verdichtet sich in diesem Moment.« | UDE
Margriet de Moor: »Der Maler und das Mädchen«; aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen; Hanser Verlag, München 2011, 403 Seiten, 19,90 Euro
Die Autorin liest am 27. Mai 2011, 19:30 Uhr, im Heine-Haus, Düsseldorf. www.heinehaus.de