Selbst die mediale Vorbereitung auf das Monumentalereignis fällt diesmal ausführlicher aus, als man es von der Deutschen Oper am Rhein gewohnt ist. Gleich drei Programmhefte drängeln sich im Pappschuber, auf dem ein aus derben Latten gezimmertes Pferd in der Wüste zu sehen ist. Da es sich dabei nicht um eine Sponsorenanzeige für schadstoffarmes Holzspielzeug handelt, ist diesmal wirklich das Trojanische Pferd gemeint.
Der Anlass: In beiden Häusern der Rheinoper in Duisburg und Düsseldorf gibt es mythologische Wochen. Die fünfaktige Monumentaloper »Les Troyens« von Hector Berlioz steht im Zentrum – was dem Projekt per se schon Glanz und Ehre verschaffen würde. Doch auch das Beiprogramm ist erlesen: Jacques Offenbachs Opéra-bouffe »La belle Hélène« wird in den Duisburger Kulissen des Trojanischen Krieges in einer neuen Kammerspielfassung von Christian Rieger (Musik) und Christof Loy (Text) gespielt.
Und in Düsseldorf ist als Übernahme von den Schwetzinger Festspielen eine Fortsetzungsgeschichte der trojanisch-griechischen Metzeleien zu besichtigen: das 1718 in Rom entstandene Melodramma Telemaco mit Musik von Alessandro Scarlatti, der für die Abenteuer des Odysseus-Sohnes Telemachos eine hoch dramatische, kunstvoll gewirkte Musik erfand, die einem Georg Friedrich Händel weiland so manche Rezepte lieferte.
Doch nicht von dieser Trouvaille soll hier die Rede sein, sondern von der wundersamen Wiederbelebung der Antikenbegeisterung des Berlioz. Neben Shakespeare war Vergil der literarische Gott, dem der Komponist mit dem mythologieträchtigen Vornamen seit seiner Kindheit opferte. Am Ende seiner Popularität als Komponist, die in Deutschland immer stärker ausgeprägt war als bei den französischen Landsleuten, raffte Berlioz den ausufernden Stoff von Vergils Aeneis zu fünf Opernakten zusammen, in denen der Untergang Trojas die ersten beiden und die Affäre zwischen Aeneas und der karthagischen Königin Dido die letzten drei Akte umfasst.
Allerdings war der Pariser Opéra auch dieser vierstündige Schnelldurchgang durch die Aeneis noch zu monströs. Und so fand eine unverfälschte Gesamtaufführung überhaupt erst 1969, nach Veröffentlichung der originalen Partitur, in Glasgow statt. Seitdem ist das Werk nicht allzu häufig gesehen worden – vielleicht, weil es so merkwürdig zwischen papierenem Klassizismus und niederschmetternden Klangvisionen, zwischen Konvention der Grand Opéra und modernen Brüchen schillert.
Regisseur Christof Loy liest die beiden ersten Akte (»Die Einnahme von Troja«) in Duisburg als Chronik eines Untergangs, dessen apokalyptische Dimension durch Anklänge an Hitlers letzte Tage samt medialer Vereinnahmung unterstrichen wird. Eine klassizistisch protzende Halle (Bühne: Herbert Murauer) gemahnt an totalitäre Reichskanzleien.
Nach dem Scheinabzug der Griechen scheint für die Trojaner das Gröbste überstanden. Nur Kassandra weiß es besser: Augenrollend und schreckverstört verkündet sie der abgetakelten Herrscherfamilie um Priamus ihre Götterdämmerung. Und es ist eine der ganz großen Heroinen der Operngeschichte, der die Bayreuth-gestählte Evelyn Herlitzius eine Intensität gibt, die nicht nur dramatisch anschlägt, sondern über viele Nuancen der Trauer, Verletztheit und Verzweiflung gebietet.
Ihr gegenüber steht ein kühl berechnender Aeneas, dessen zugegeben heldisch-heikle Partie von Albert Bonnema am Premieren-Abend gellend zunichte gemacht wurde. Den Untergang samt finalem Massenselbstmord der trojanischen Frauen erzählt Loy klar und effektvoll. Der heroische Tonfall der Akte drei bis fünf (»Die Trojaner in Karthago«), die in Düsseldorf stattfinden, wird durch hinzu erfundene Nebenhandlungen aufgelockert und kommentiert. Jeanne Piland singt die Dido mit Größe, Seele und reicher Erfahrung – und mutiert dabei von der strengen Führerin des Volkes zur abhängigen, unselbstständigen Geliebten eines flatterhaften Salonlöwen. Ein traurig einsamer Abschied von Idealen.
Die musikalische Oberaufsicht des Projekts obliegt John Fiore, dem Chefdirigenten der Rheinoper, der sich in den Soloarien eines würdevoll statuarischen Klassizismus befleißigt. Doch nicht die marmorne Statue, sondern der atmende, fühlende, affektbeherrschte Mensch steht bei Berlioz im Zentrum.
Immerhin demonstriert Fiore selbst in den glänzend gesungenen Chören und Aktionsszenen (die Ballette sind weitgehend gestrichen), wie packend, federnd und vorwärts peitschend Berlioz klingen kann.