Es wundert nicht, dass sich Theater von Oldenburg bis Frankfurt im Mozartjahr gerade auf die späte Opera seria »La clemenza di Tito« stürzen. Denn die Versuchung ist reizvoll: Zu überprüfen wäre die Mär von der eher lustlos und uninspiriert heraus gestemmten »Geldarbeit« zur Krönungsfeier für Leopold II., aber auch die künstlerische und sozialgeschichtliche Antiquiertheit der Seria als Tugendspiegel des Adels. Dass dieser Aristokratie im September 1791, dem Zeitpunkt der Prager Uraufführung, aus Westen schon die Götterdämmerung drohte, wird in der Inszenierung von Christof Nel für die Deutsche Oper am Rhein tunlichst ausgeklammert. Auf die Spur seiner Titus- Lesart führen mehrere Eisblöcke, die Roland Aeschlimann seinem klaustrophobischen Bühnenkasten im unwirtlich-klinischen Weiß
eingelagert hat. Das Reich des Titus ist kein Musterstaat der Humanität, sondern eisige Kolonie eines Sektenführers, der seine Milde als emotionales Psychokorsett einsetzt. Corby Welch (als Tenor leider unverlässlich) spielt nicht schlecht diesen unangreifbaren Guru, der erst durch den Verrat seines Freundes Sextus (die hoch souveräne Annette Seiltgen) auf die Probe gestellt wird: Herz oder Kopf, sprich Staatsräson. Das alles ist szenisch klug disponiertes, therapeutisch angelegtes Kammerspiel in Leinenhosen, wenn auch nicht frei von dröger Mimik und belehrenden Momenten. Andreas Stoehr dirigiert die herrlichen Solonummern und Ensembles flexibel, zuweilen genießerisch; das Orchester folgt ihm oft nur mit gebremster Laune und Präsenz.
Die Rettung der »Clemenza di Tito« durch Individualisierung der Charaktere hat Mozarts »Entführung aus dem Serail« nicht nötig. Auch die Dortmunder Inszenierung durch die Hausherrin Christine Mielitz vertraut da ganz den vorgegebenen Rollenprofilen: dem bärigen und bärbeißigen Charme eines Osmin (Bart Driessen mit geöltem Ganzkörperspiel), der Leidensmiene einer weißhäutig-duldnerischen Konstanze (Sylvia Koke mit vortrefflicher Marternarie) oder der resoluten Powackelei der Blonde (Selma Harkink). Allerdings verspricht das Programmheft etwas mehr an produktiver Auseinandersetzung mit der islamischen Welt, als sie auf der Bühne von Hartmut Schörghofer zwischen Wüstensand und Harem Realität wird. So müssen wir drei politisch korrekte Stunden auf die gelungenste Szene des Abends warten. Wie Titus übt auch Selim, der aus Europa stammende Bassa (Jürgen Hartmann), am Ende Herrschermilde, indem er Fehltritte verzeiht und jedem sein persönliches Glück erlaubt. Doch anders als der Kaiser muss der Bassa diese Gnade mit der Waffe gegen Osmin und seine arabischen Landsleute verteidigen. Fremdheit lässt sich leider nicht immer durch Verständnis und Toleranz überwinden. MSS