Text und Interview: Andrej Klahn
Ende der 90er Jahre gehörte sein Name zum festen Bestand des philosophischen Gemunkels. Man hatte in Deutschland von Giorgio Agamben gehört, seine Bücher aber nicht unbedingt gelesen. Was auch daran lag, dass das vermeintlich brisanteste unter ihnen in allen möglichen Sprachen verfügbar war, nur auf deutsch nicht. Homo Sacer, der erste Teil der gleichnamigen, auf mehrere Bände angelegten Studie, erschien 1995 in Italien, die französische Übersetzung 1997, die englische 1998. Das Echo war laut. So laut sogar, dass aus dem geschlossenen akademischen Rezeptionsraum, in dem die Stimmen in der Regel ja weitgehend ungehört verhallen, Geräusche nach außen drangen. Doch der Suhrkamp Verlag, der die Rechte für die deutschsprachige Ausgabe des Homo Sacer schon früh erworben hatte, wartete bis 2002, um das Buch herauszubringen. Bemerkenswert lange, wenn man bedenkt, wie rasant die Nachfrage nach Agamben auf dem Theoriemarkt zwischenzeitlich gestiegen war.
Die breite Auseinandersetzung mit einem Denker, der bei Heidegger studierte, in Italien die Werkausgabe Walter Benjamins betreut hat und Ansätze Michel Foucaults für den Bereich des Rechts und neuerdings auch für den der Theologie fruchtbar zu machen versucht, blieb also erst einmal aus. Während man anderswo lebhaft etwa über die in seinem komplexen Hauptwerk vertretene These diskutierte, dass das Lager das »biopolitische Paradigma der Moderne« sei, gab es hierzulande vor allem Gerüchte. Denn mit jedem Jahr, das der Verlag verstreichen ließ, ohne die Übersetzung zugänglich zu machen, erhielten die Spekulationen über den Grund der Verzögerung neue Nahrung. Schließlich wurde gemutmaßt, Suhrkamp veröffentliche Agamben nicht, weil dem Verlag Thesen wie etwa die einer »innersten Solidarität« zwischen Demokratie und Totalitarismus nicht recht ins Programm passen würden.
Aus welchen Gründen auch immer der Verlag sich Zeit gelassen hat – der Nachfrage nach den Werken des in Venedig wohnenden und lehrenden Philosophen hat das nicht geschadet. Ganz im Gegenteil. Seit 2002 folgt Übersetzung auf Übersetzung. Denn Agambens Denken scheint eine neue Dringlichkeit bekommen zu haben. Dazu beigetragen haben auch jene Ereignisse, die im Zuge des so genannten Antiterrorkampfs geschehen sind und für die heute stellvertretend der Name »Guantanamo« steht. Dieser eigens als solcher eingerichtete rechtsfreie Raum ließe sich als augenscheinlichster Beleg für Agambens These anführen, demnach der Ausnahmezustand, verstanden als »legale Form dessen, was keine legale Form annehmen kann«, heute erst seine weltweit größte Ausbreitung erreicht hat. Agamben selbst hat 2003 den juristischen Status der gefangen genommenen Taliban mit dem der Juden in den nationalsozialistischen Lagern verglichen. Wohlgemerkt: den juristischen Status. Das hat die erwartet scharfe, dabei nicht immer um Genauigkeit bemühte Kritik nach sich gezogen. Ebenso wie die Begründung, mit der er im Januar 2004 seine Lehrveranstaltungen an der New York University absagte, weil er sich nicht der für die Einreise in die USA mittlerweile obgligatorischen datenmäßigen Erfassung unterziehen wollte. Diese selbst verglich Agamben nicht mit der Tätowierung in Auschwitz, erinnerte wohl aber daran, dass letztere »möglicherweise als ›normale‹ und wirtschaftliche Art erschien, um die Aufnahme der Deportierten ins Lager zu regeln.«
Soweit zur bisweilen harschen öffentlichen Aufmerksamkeit, die dem Mann zuteil wird, der seine Bücher mittlerweile in größeren Theatern vorstellen kann, ohne dabei Gefahr zu laufen, auf ein weithin leeres Parkett schauen zu müssen. Jener Agamben aber, der zurzeit an der Düsseldorfer Heinrich-Heine- Universität als Humboldt-Preisträger zu Gast ist, lässt sich schwer in Einklang bringen mit dem reichlich dunkel eingefärbten Bild des Starphilosophen und der Buchmessensensation, das das deutschsprachige Feuilleton so gern und dabei nicht immer frei von Häme zeichnet. In den Seminaren und Diskussionen war Agamben zunächst ein aufmerksamer Zuhörer, dessen Aufmerksamkeit auch nach Stunden nicht nachzulassen schien. Während des Symposiums »Benjamin und Agamben« sah man ihn im Laufschritt durch die K20 eilen, weil er nichts verpassen wollte von dem, was die Referenten über ihn zu sagen hatten. Selbst für die Klee-Sammlung des Hauses hatte er morgens, kurz vor Beginn der Vorträge noch ein wenig seiner verplanten Zeit übrig.
Weder konnte man den Eindruck haben, dass Agamben sich sonderlich in der Rolle des Meisterdenkers gefällt, noch passte sein Auftreten zum ihm vorauseilenden Ruf des Apokalyptikers in Einklang zu bringen. Ein solcher zu sein, wollte er ohnehin nur dann gelten lassen, wenn man damit nicht den Weltuntergangsphantasten, sondern den Enthüller verborgener Strukturen meine. Und es hatte nichts von Koketterie, wenn Agamben vor dem folgenden Gespräch bemerkte, dass die deutsche Rezeption seiner Bücher erheblich mehr von den Medien geprägt sei als in Italien, wo es ihm bislang weitgehend gelungen sei, den Journalisten zu entfliehen.
K.WEST: Worin besteht die innere Solidarität zwischen Totalitarismus und Demokratie?
AGAMBEN: Ich bin oft beschuldigt worden, Totalitarismus und Demokratie gleichzusetzen. Selbstverständlich weiß ich sehr genau, dass es sich um Phänomene handelt, deren Geschichte und Bedeutung verschieden sind. Ich bin der Überzeugung, dass der einzige Zugang zur Gegenwart eine genealogische, eine archäologische Fragestellung ist. Aus dieser Perspektive ist die Frage zentral, wie es möglich ist, dass das, was wir Demokratie nennen, sich dem Totalitarismus hat annähern können und nun Berührungspunkte mit ihm hat. Dennoch: Es geht keinesfalls darum, beide zu verwechseln.
K.WEST: Einer ihrer zentralen zeitdiagnostischen Befunde lautet, dass der Ausnahmezustand immer mehr zu einem normalen Paradigma des Regierens geworden ist.
AGAMBEN: Benjamin hat in seiner 8. These über den Begriff der Geschichte schon 1940 sehr klar erkannt, dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist. Das stimmte auch insofern, als der Ausnahmezustand in Deutschland 1933 verhängt und nie widerrufen wurde. Es scheint mir sehr evident zu sein, dass diese zeitlich begrenzte Maßnahme seit dem Kriegsende zu einem normalen Regierungs- Paradigma geworden ist. Jedes Jahr bringt neue Ereignisse mit sich, die diese Entwicklung bestätigen.
K.WEST: Heißt das, dass die Zeit des Rechtsstaates zu Ende geht?
AGAMBEN: Ziel meiner Forschung ist nicht, Diagnosen über den Zustand des Rechtsstaates zu stellen. Auffällig aber ist, dass die klare Unterscheidung zwischen Legislative und Exekutive, auf der die demokratische Tradition beruht, immer durchlässiger wird. Ich bin mir nicht sicher, ob das jemals wirklich anders war, aber heute existiert die Grenze zwischen den beiden Gewalten kaum noch. Auch könnte man sich überlegen, ob diese Kategorien überhaupt angemessen sind, um die Wirklichkeit zu erfassen. Bestimmte Unterscheidungen, die in der linken Tradition des demokratischen Denkens immer klar zu sein schienen, entsprachen vielleicht niemals der Realität. Dazu zähle ich beispielsweise die Trennung Souverän und Regierung, Gesetz und Erlass. Ich stimme mit Michel Foucault darin überein, dass das vorrangige Paradigma der Moderne das des Regierens ist. Mitte der 70er Jahre hat Foucault sich die Frage gestellt: Weshalb und warum nimmt die Macht im Okzident jene Form an, die er »le gouvernement des hommes« nennt. Das heißt: die Idee, dass das Wesentliche der Politik darin besteht, das Verhalten, die Meinungen, Gesten und Gedanken der Menschen zu lenken, zu formen und zu steuern. Genau das ist die fundamentale Frage der modernen Politik.
K.WEST: In diesem Zusammenhang steht auch Ihre insbesondere in Deutschland sehr umstrittene These, das Konzentrationslager sei das Paradigma der Moderne. Warum haben Sie ausgerechnet den Ort einer singulären Vernichtung von Leben als Beispiel für einen rechtsfreien Raum gewählt? Damit setzen Sie sich doch zwangsläufig der Kritik aus, dieses historisch beispiellose Ereignis zu relativieren.
AGAMBEN: In dieser Definition ist der Begriff Paradigma wichtig. Meine Arbeit ist immer einer Methode verpflichtet, die man paradigmatisch nennen könnte. Das griechische »Paradeigma « bedeutet Beispiel. Ich halte es für sinnvoll, von einem begrenzten historischen Phänomen auszugehen, so wie es auch Michel Foucault mit dem Panoptikum gemacht hat. Doch handelt es sich dabei nicht um historische Forschung, noch um ein Urteil über das Phänomen. Wenn ich sage, dass das Lager das Paradigma der Moderne ist, bedeutet das nicht, dass die Situation, in der wir uns befinden, mit der eines Lagers vergleichbar wäre. Mir wurde oft vorgeworfen, dass ich das behauptet hätte. Das stimmt aber nicht. Ich habe dieses Paradigma lediglich benutzt, um eine Raum- und Rechts-Struktur in einem bestimmten Problemzusammenhang zu beschreiben und dadurch die Gegenwart zu verstehen. Das Lager ist ein rechtsfreier Ort. Das ist einer der Aspekte, doch es gibt viele.
K.WEST: Sie argumentieren in Ihren Arbeiten auf zwei Ebenen, um die Verbindung zwischen Recht und Rechtlosigkeit, souveräner Macht und nacktem Leben aufzuzeigen. Einerseits historisch, andererseits geht es Ihnen immer auch um die Analyse gegenwärtiger Strukturen. Welchen Stellenwert hat die historische Recherche für Ihre Arbeit?
AGAMBEN: Michel Foucault hat einmal über seine Arbeit gesagt, dass die Befragung der Vergangenheit nichts anderes gewesen sei als der Schatten, den die theoretische Befragung der Gegenwart wirft. Für meine archäologische und genealogische Forschung trifft dieses Bild ebenso zu. Auch wenn die Reichweite des Schattens in meinen Arbeiten länger ist, ändert das nichts an der Tatsache, dass die historische Recherche und die theoretische Befragung der Gegenwart sehr eng miteinander verknüpft sind.
K.WEST: Könnte man denn von einer strukturellen, wenn nicht transzendentalen Notwendigkeit sprechen hinsichtlich der Beziehung zwischen dem Recht und dem, was Sie »nacktes Leben« nennen? Ist eine Politisierung des natürlichen Lebens in diesem Sinne notwendig?
AGAMBEN: Das zentrale Problem des Rechts ist seine Beziehung zum Leben. Das nackte Leben wird durch die Macht im Laufe der Geschichte erst hervorgebracht, es gibt also keine transzendentale Notwendigkeit dafür, dass aus dem Verhältnis zwischen Recht und Leben das nackte Leben hervorgeht.
K.WEST: Am Ende von Homo sacer fordern Sie, dass man »aus dem nackten Leben selbst« den Ort machen müsse, »an dem sich eine gänzlich in nacktes Leben umgesetzte Lebensform herausbildet und ansiedelt ….«.
AGAMBEN: Ich nehme hier eine andere Position ein als Hannah Arendt und Leo Strauss, denn ich glaube nicht, dass man hinter die Biopolitik zurückgehen kann, zurück zur klassischen Politik der griechischen Demokratie, in der Politik und Leben noch klar getrennt wurden. Ganz generell bin ich der Meinung, dass ein Zurück niemals möglich ist. Was ich mich frage, ist: Wie ist es möglich, einen neuen politischen Raum zu denken unter der Bedingung, dass privat und öffentlich, Haus und Stadt ununterscheidbar geworden sind? Ich werde mich in meiner nächsten Arbeit mit diesem Problem beschäftigen.
K.WEST: Ein Beispiel für eine solche Ununterscheidbarkeit führen Sie am Ende von Homo Sacer an: das Leben des körperlich wie psychisch depravierten Menschen im KZ, der in der Lagersprache auch »Muselmann« genannt wurde. Der Muselmann, so schreiben Sie, bewege sich in einer »absoluten Ununterscheidbarkeit von Faktum und Recht, Leben und Norm, von Natur und Politik.« Ihm gegenüber sei der Aufseher bisweilen plötzlich machtlos gewesen, weil dieser Zustand auch eine »unerhörte Form von Widerstand« hätte sein können. Es fällt mir sehr schwer, den Muselmann mit einem in Zukunft lebenswerten Leben in Verbindung zu bringen.
AGAMBEN: Der Muselmann ist ein Paradigma, um das nackte Leben zu verstehen. Er ist das negativste Faktum der Biopolitik, ihre extremste Figur. Der Muselmann kann keinesfalls in dieser Hinsicht als positives Paradigma dienen. Aber ausgehend von dieser Extremsituation, die der Muselmann darstellt, ist es vielleicht möglich, neue Figuren des Lebenden und der Beziehung zwischen Leben und Recht zu denken.
K.WEST: An anderer Stelle stellen Sie eine »neue Politik« mit Bezug auf Walter Benjamins bereits erwähnte 8. geschichtsphilosophische These in Aussicht. Dort heißt es: »Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff von Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes vor Augen stehen.« Das legt nahe, dass diese »neue Politik« nur in der Aufhebung jeglichen Rechts bestehen kann?
AGAMBEN: In diesem Zusammenhang bestand für mich das Problem darin, den Unterschied zwischen dem zu begreifen, was Walter Benjamin »wirklichen Ausnahmezustand« nennt und demjenigen Zustand, den Carl Schmitt und das Recht definieren. Bei Carl Schmitt ist die Aufhebung des Rechtes immer noch in einem rechtlichen Rahmen situiert, d.h. die Suspendierung des Rechts unterhält immer noch eine Beziehung mit dem Gesetz. Bei Benjamin stellt der Ausnahmezustand einen absoluten Bruch in der Beziehung zwischen Anomie und Gesetz dar. Das scheint mir eine interessante Opposition zu sein: Den Ausnahmezustand, in dem wir leben, als eine Situation zu denken, in der der Zusammenhang von Gesetz, Recht und Gewalt durchbrochen wird.
K.WEST: Der utopische Fluchtpunkt aber ist eine Gesellschaft, die ohne Gesetze auszukommen versteht?
AGAMBEN: Ich habe mich lange Zeit gefragt, ob eine Gesellschaft ohne Gesetze die Lösung des Problems sein könnte. Heute glaube ich eher, dass man sich fragen sollte, ob nicht ein neuer Gebrauch des Gesetzes, eine neue Form von Gesetzen möglich wäre. Das, was Walter Benjamin zum Beispiel in seinem Kafka-Essay zu denken versucht: Das nicht mehr angewandte, sondern nur noch studierte Gesetz ist die Tür zu Gerechtigkeit. Dieses Gesetz muss nicht zwangsläufig die uns bekannte Form haben, das heißt eine Verbindung von Recht und Gewalt etablieren. Der Gedanke ist: Sind andere Formen des Rechtes und des Gesetzes möglich?
K.WEST: Was heißt das konkret?
AGAMBEN: Meine Aufgabe besteht nicht darin, Anweisungen zu geben, ich habe keine Rezepte und keine Macht. Ich sehe meine Arbeit darin, die Strukturen zu verstehen, mit denen wir heute konfrontiert sind und Kategorien zu denken, die eine neue Situation schaffen würden. Ist es nicht schon eine Form von Aktion oder Praxis, wenn man mit einer anderen Perspektive auf die Situation schaut, in der wir uns befinden?
K.WEST: Inwiefern führt Ihre Problematisierung des Politischen über linke Staatskritik hinaus?
AGAMBEN: Natürlich gibt es sehr viele Berührungspunkte, aber vor allem große Differenzen. Um noch einmal auf das Problem des Regierens zurückzukommen: Der linken Tradition scheint dies eine Nebensächlichkeit zu sein, ein Problem des Überbaus. Das Problem der Linken war deshalb immer, wie sie an die Regierung kommt. Doch ging es ihr nie darum, zu begreifen, was mit dem Regieren als solchem auf dem Spiel steht. Genau das ist Thema meiner aktuellen Forschung. //
Mitarbeit an der Übersetzung: Viviana Henke
Für Januar 2006 ist das Erscheinen von Giorgio Agambens Kommentar zum Römerbrief, »Die Zeit, die bleibt«, angekündigt. Voraussichtlich im Mai wird es wieder Veranstaltungen mit ihm an der Heinrich-Heine- Universität geben. Nähere Informationen dazu unter:www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/agamben/agamben.htm