Siebenunddreißig Jahre können sich manchmal ziemlich lang anfühlen. Im März 1970 gründete sich in Köln der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, um Werktätige schreibend das Reflektieren auf ihre Klassenlage zu lehren und all den Anderen Nachricht zu geben von der abgeschirmten Welt hinter den Fabriktoren: wie sie ist und wie sie sein sollte. Die im Fischer Verlag erscheinenden Bände des Werkkreises erreichten in den 1970er Jahren eine Gesamtauflage oberhalb der Millionengrenze. Macht man sich die Perspektive der Werkkreisgründer zu eigen, wird man dennoch nicht umhin kommen festzustellen, dass, wenn sich die Lage der schreibenden Kumpel und Angestellten verändert hat, dies weniger einem veränderten Bewusstsein, als vielmehr dem tiefgreifenden Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft geschuldet ist.
Nun hat Johannes Ullmaier für den Suhrkamp Verlag unter dem Titel »Schicht!« »Arbeitsreportagen für die Endzeit« versammelt. Doch ist dies mitnichten die Neuauflage eines alten Projektes mit längst überschrittenem Verfallsdatum. Unabsehbar weitläufig scheint das Terrain, auf das sich die sechzehn zeitgenössischen Schriftsteller begeben, diffus konturiert die Sache, die es zu fassen gilt. Doch das ist ein Mangel nicht des Konzepts, sondern der Realität. Hat die Arbeit doch vor allem seit den 1990er Jahren in jeder Hinsicht eine Entgrenzung sondergleichen erfahren. Auch verstehen sich die »Reportagen« glücklicherweise nicht mehr als Teil einer Lösung, weil die Wirklichkeit, die sie einzufangen suchen, bei näherem Hinsehen immer komplexer wird. So sind die Beitragenden von ihrer Reise durch die reale und imaginäre »Endzeit« dann auch mit sehr unterschiedlichen Eindrücken zurückgekommen. Alles zusammengenommen ergibt das einen nicht nur untergangsgestimmten, bemerkenswerten Aus- und Einblick in eine Wirklichkeit, für die sich die zeitgenössische deutschsprachige Literatur wieder mehr und mehr zu interessieren scheint.
Zum Auftakt mustert Juli Zeh noch einmal das Projekt »Lohnarbeit« durch und stellt diesem das Ideal einer Tauschgesellschaft als brandenburgisches Dorfidyll entgegen. Doch Utopia ist der Kontinent, der in »Schicht!« am wenigsten erkundet wird. Das liegt vielleicht auch daran, dass mehr als die Hälfte der Autorinnen und Autoren des Bandes zwischen 1964 und 1974 zur Welt gekommen ist. Die Mehrzahl gehört also einer pragmatisch gestimmten Generation an, die mit dem zunehmenden Flexibilisierungsdruck des Arbeitsmarktes noch viele Jahre wird umgehen müssen. Ihnen bleibt also genug Zeit, sich daran zu gewöhnen, dass eine gerade verlaufende Karriere eher die Ausnahme sein wird. Wessen Weg jenseits der Feststellung ins Land der Projekte und Ideen mündet, sollte sich schon mal auf einen Ausflug einstellen, der mit immer wieder neuen Gebieten bekannt macht.
Mit Holm Friebe widmet Peter Glaser eines seiner drei Porträts aus den »digitalen Arealen« einem Stichwortgeber (»Digitale Bohème«) des neuen, freien und weniger selbstentfremdeten Arbeits(er)lebens. Dank Thomas Kapielski, der die »Schicht!« mit einer Selbstbefragung zum Thema Kapielski anreichert, lässt sich allerdings daran erinnern, dass »die ganzen halsbrecherischen Bohème-Kollegen im Hintergrund vermögend waren.« Zu unterschiedlichen Graden haben sich sie Autoren und Autorinnen auf das Genre Reportage eingelassen. Während etwa Georg Klein in die »Nacht mit dem Schandwerker« den realen Grund – wenn es ihn denn gibt – der Geschichte bis zur Unkenntlichkeit in seiner routiniert ornamentalen Verrätselungsprosa versteckt, haben sich andere tatsächlich auf die Suche nach Gesprächpartnern gemacht, sind, wie es bei Kathrin Röggla heißt, zu einem »dokumentartier, das ein wirklichkeitsvehikel nach dem anderen benutzt und dann wegwirft« geworden. Dass sich die Wirklichkeit, zumal die von Autokonzernen erzeugte, nicht einfach so benutzen lässt, sie vielmehr die »Dokumentartiere« mit ziemlich kurzer Leine für sich dienstbar zu machen sucht, zeigt Bernd Cailloux. Sein die hohe Kunst des Reportierens vollendet beherrschender Bericht aus dem VW-Forschungszentrum endet mit dem Verweis auf eine von ihm unterschriebene Geheimhaltungsverpflichtung. Cailloux weiß mehr, als er öffentlich machen darf, lässt aber gekonnt reichlich heiße Luft aus der aufgeblähten Zukunftsforschungsblase. Die entscheidende Frage, wo der Mensch in naher Zukunft arbeiten werde, lässt er sich von einem IT-Spezialisten beantworten: »In den virtuellen Welten.« Die Zukunft, sagt sein Gesprächspartner, kenne dann noch zwei Möglichkeiten von Arbeit: die im virtuellen Raum und die des Schutzes der Cyberspace-Bewirtschafter vor den Erwerbslosen. Vor diesem Hintergrund ist Wilhelm Genazinos »Momentweise betäubt« nicht weniger als ein unkonventioneller Beitrag zur Nachhaltigkeitsdiskussion. Plädiert Genazino darin doch für die Anerkennung des Bettelns als Lehrberuf. So würde, ließe sich ergänzen, die Wachstumsbranche »Arbeitslosigkeit« künftig zumindest ausreichend mit qualifizierten Kräften versorgt werden. //
Schicht! Arbeitsreportagen für die Endzeit; Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007, 417 S., 12.- Euro