»Dornröschen« war schon im 19. Jahrhundert eines der aufwändigsten Ballette aller Zeiten – in Essen gönnt man sich nun ebenfalls Pomp, kehrt mit Kostümpracht und Bühnenbildfantasien zurück zur Konvention. Denn wo andere Märchen Tod und Gewalt überwinden müssen, kämpft man hier nur gegen den Schlaf an – kein Stoff, der die Choreografen zu neuen Adaptionen inspiriert. Anders als der Nussknacker, den man alljährlich zur Weihnachtszeit aufputzt, und der Schwanensee, der gern schon mal in zeitgenössische Choreografien schwappt, inspiriert dieses zweite von drei Tschaikowsky- Balletten nur wenige Gegenwarts-Choreografen. Auch bei Stefan Lux hat es weniger die Innovationslust als die Erinnerung gereizt: An die fast 120 Jahre alte Version von Marius Petipa, die Lux sensibel von den Spinnweben befreit und tanztechnisch noch ein wenig hochgetuned hat. Vor allem in den Ensembleszenen gönnt Lux den brillanten Aalto-Tänzern Ausbrüche aus der gelegentlich etwas behäbigen Form, lässt die Männer dann plötzlich in ganz flachen schnellen Sprüngen über die Bühne fliegen. Daneben geraten besonders die neu choreografierten Auftritte der bösen Fee Carabosse (großartig getanzt von der Spanierin Alicia Olleta) zu Glanzlichtern im Harmonie-Nebel. Ihre Widersacherin Taciana Cascelli als gute Fee zeigt wie üblich, dass Lieblichkeit und Anmut nicht unbedingt altmodische Tanzqualitäten sein müssen. Doch der eigentliche Star des Abends sollte diesmal ein Gast sein. Iana Salenko ist Dornröschen. Ab nächster Spielzeit wird sie erste Solistin beim Staatsballett Berlin, eine 24jährige Kindfrau, zart gewachsen und schon deshalb rührend. Die extrem anspruchsvollen Prinzessinnen-Partien mit kraftkostenden Balancen auf Spitze – Salenkos Tanz überspielt die Schwierigkeiten noch nicht souverän, was aber die Zerbrechlichkeit ihres Dornröschen noch potenziert. So erfüllt der Berliner Choreograf Stefan Lux zusammen mit den gefühlvollen Aalto-Tänzern den eigenen Anspruch: Sie küssen einen Ballettklassiker nicht wach, sondern träumen ihn weiter. STRECKER
Wachgeträumt
01. Mai. 2007