// Unruhe. Der Begriff war Programm. In Gerhard Hoehmes zahlreichen Texten kommt dieses Gefühl immer wieder zur Sprache und in seinen Werken zur Anschauung. Es muss ihn sein ganzes Künstlerleben lang verfolgt haben. Die Unruhe des Suchenden – sie ließ Hoehme nach immer neuen Ausdruckmöglichkeiten forschen, hin und her schweifen. Mal sieht man ihn ungeheuer fortschrittlich, dann wieder eher konventionell mit Leidenschaft der klassischen Malerei zugewandt. Ohne bei alle dem je wirklich festen Boden unter den Füßen zu gewinnen.
1963 bringt er seine Rastlosigkeit ganz offen im Bild zum Ausdruck: »Die Unruhe wächst«, diesen Schriftzug platziert Hoehme im unteren Teil eines informellen Gemäldes, das er seinem Sohn widmet. Es muss ihm ganz besonders wichtig gewesen sein. Ein treffenderes Motto hätte sich denn auch kaum finden lassen für Hoehmes Großauftritt diesen Herbst in Nordrhein-Westfalen, wenn der Künstler gleich an drei Orten gefeiert wird. 20 Jahre nach seinem Tod und genau ein halbes Jahrhundert, nachdem die documenta II in Kassel den Durchbruch der Abstraktion zur neuen »Weltsprache« feierte.
Damals wurden Hoehme und seine informellen Mitstreiter aus dem Informel auf den Dachboden des Fridericianums ins Dämmerlicht verbannt – elektrische Lampen gab es dort oben nicht. Inzwischen haben sie freilich den Weg in gut beleuchtete Museumssäle gefunden. So wird die umfassende Hoehme-Retrospektive im Duisburger Museum Küppersmühle begleitet von zwei kleineren Satelliten-Ausstellungen in Düsseldorf, wo das museum kunst palast Beispiele aus dem reichen zeichnerischen Werk präsentiert. Und von einer Schau im Duisburger Lehmbruck-Museum, die sich vor allem um plastische Arbeiten kümmert.
Alle zusammen wollen Hoehme zu seinem Recht verhelfen, den ganzen Künstler zeigen und ihn vom Image des ewig Informellen befreien. Ein guter Plan. Denn wenn der Name Hoehme beim Publikum überhaupt irgendetwas zu wecken vermag, dann sind es in der Regel noch immer bloß Erinnerungen an die ungezwungenen, formlosen, abstrakten Malgesten des deutschen Informel. Er hängt in den Köpfen fest als Hauptvertreter dieser wesentlichen Nachkriegsströmung. Das war er auch, ohne Zweifel. Doch ist der unruhige Künstlergeist durchaus nicht stehen geblieben bei seinen Errungenschaften der früheren 50er Jahre.
Auf der informellen Grundlage entwickelte Hoehme neue, ganz eigene Ideen. So setzte er sich früh und entschieden über die Zwänge des traditionellen Bildformates hinweg. Er formte die Leinwand ganz frei – Jahre bevor Frank Stella die Umrisse der Bilder den Motiven anpasste und damit seinen Ruf als Erfinder des Shaped canvas begründete. Mit Schnüren suchte Hoehme sich seinen Weg aus dem Bild heraus in den Raum hinein, auch zum Betrachter hin. Früh entdeckt er Elemente der Alltagswelt für seine Kunst, experimentierte mit kunstfremden und industriellen Materialien – Mitte der 60er arbeitete er etwa mit Kunststofffolien und Polyethylenschläuchen, machte Tischdecken und Schnittmusterbögen zu Bildträgern. Er thematisierte die Mechanismen der Information und Kommunikation. Entpuppte sich obendrein auch in seiner Kunst als zeitkritischer Denker.
»Die Unruhe wächst« – als Hoehme 1963 jenes vielsagende Statement auf die Leinwand brachte, lag bereits ein ziemlich unruhiges Künstlerjahrzehnt hinter ihm. Nach dem Kriegsdienst als Jagdflieger, einem Studium an der Kunstschule Burg Giebichenstein bei Halle und der Flucht in den Westen hatte er Anfang der 50er Jahre in Düsseldorf seine Karriere gestartet. Im Kreise der »Gruppe 53« und im fruchtbaren Umfeld der Düsseldorfer Avantgarde-Galerie 22 war er zu einem Protagonisten des Informel geworden. Nur eine Episode, und eine kurze dazu. Denn schon nach wenigen Jahren trieb es Hoehme um. Die Suche ging weiter.
»1957 – das war ein unglaublich wichtiges Jahr für mich, da bin ich sehr in Bewegung geraten«, stellte der Maler rückblickend fest. Und mit Blick auf seine Werke dieser Zeit kann man ihm nur zustimmen. Da ist einiges im Gange – überall regt sich der Drang nach Veränderung, auch der Wunsch, das Bildgeviert zu sprengen: In »Borkenbildern« kündigt Hoehme die so selbstverständlich erscheinende Verbindung zwischen Leinwand und Farbe auf. Die pastosen Farben aus der Tube entwickeln ihr Eigenleben – sie trocknen zu Schollen, formen Reliefs, reißen auf, platzen ab, wie die abgestorbene Baumrinde.
Im selben Jahr experimentierte Hoehme auch mit der Öffnung und Erweiterung des Bildraumes ins objekthafte Shaped canvas. Gleichzeitig übersetzte er die plane Linie ins Skulptura- le. Beide Ideen kommen zusammen in »S’amje«, einem fast zwei Meter langen »Farbobjekt«. Das schmale, liegende Rechteck ist mit einer eigens gemixten Kalkpolyestermasse zugeschmiert – Grate, Rillen und Furchen machen diesen Arbeitsschritt ablesbar. Unten am Rand fasert die Paste aus und nimmt dunkle Tönung an. Genau aus dieser verletzten Stelle treten Schnüre hervor und baumeln bis auf den Boden.
Den nächsten großen Schritt vollzog Hoehme bereits drei Jahre später in Rom, wo er Schrift für seine Kunst entdeckte. Inspirierend wirkte dabei nach eigener Auskunft das Talent der Italiener, ihr Gefühl dafür, wie man Schrift verwendet. »Schrift an Trattorien, einfach so was schreiben, was es zu essen gibt; das ist ganz anders als bei uns.« Hoehme sammelte solche schriftlichen Fundstücke, trug sie ins Atelier und machte sie zum Ausgangspunkt für seinen »Römischen Brief«. Auf der Leinwand verbinden sich die Menüs mit Äußerungen aller möglichen Besucher, auch Briefe klebte er auf, benutzte Fahrkarten und Gedrucktes aus deutschen Zeitungen. Sehr nachdrücklich holte Hoehme hier seinen eigenen Alltag ins Bild, und dazu das zeitgeschichtliche Drumherum. Er erfand das Bild neu als Instrument der Informationsausbreitung.
Beim Blick über drei Jahrzehnte hin wird bald klar, dass vieles in diesem wechselvollen Œuvre doch logisch zusammenhängt, dass eines auf dem anderen aufbaut. Kommunikation, Relationen, das Knüpfen von Beziehungen, Fluss und Austausch von Informationen – all das, was im »Römischen Brief« angedacht ist – findet sich in den späten 60ern mit Nachdruck ausformuliert in Hoehmes Werken. Auch die bereits 1957 aus dem Bild baumelnden Schnüre bleiben aktuell, weisen sie doch hin auf die Leitungen, Antennen, Tentakel seiner späteren Arbeiten, wo sie bald klar als Bindeglieder zwischen innen und außen, zwischen Bild und Betrachter oder als Kanäle des Informationsflusses erkennbar werden.
Zu den »modernsten« Erfindungen auf diesem Gebiet gelangte Hoehme Ende der 60er in sehr reduzierten schnurplastischen Objekten. Als Professor an der Düsseldorfer Akademie steckte er damals voll im Tumult um Joseph Beuys, der den konservativen Kunstbegriff seiner Kollegen attackierte und die Hochschule dabei in eine Politbühne verwandelte. Während Beuys mit medienwirksamen Aktionen auftrumpfte, blieb Hoehme im Hintergrund, präsentierte sich in seinen eher stillen Stücken darum aber nicht weniger radikal. Etwa wenn er auf dem Fußboden eine verhedderte Polyethylenschnur zum »Reigen« formt. Oder wenn er unzählige bunte Nylonfäden im »Strahlenfall« zu Boden gleiten lässt.
Warum haben Markt und Szene diese spannenden Seiten an Hoehme bisher nur am Rande wahrgenommen? Weil der Künstler der publikumswirksame Auftritt à la Beuys fern lag? Oder vielleicht, weil er in einer ungünstigen Zeit aktiv war – nach dem Krieg und vor der Pop-Art, die seit den frühen 60ern das internationale Parkett für sich in Anspruch nahm? Ein wichtiger Grund dürfte sicher auch die erwähnte Unruhe sein. Dass Hoehme sich nicht festlegen lässt, dass er das Gefundene nicht weiterdachte und in Serie brachte.
Die Kunstgeschichte werde es einmal schwer haben mit seinem Werk, so prophezeite er. Ein Satz, wie ihn sicher manch ein Künstler gerne über sich sagt. Bei Hoehme hat er sich in besonderem Maße bewahrheitet.
»Gerhard Hoehme – die Unruhe wächst«. 13. September bis 10. Januar 2010. Museum Küppersmühle, Duisburg; www.museum-kueppersmuehle.de; Wilhelm Lehmbruck-Museum, Duisburg; www.lehmbruckmuseum.de; Museum Kunst Palast, Düsseldorf. www.museum-kunst-palast.de.