Die moderne russische Kunst hat derartige Höhen erreicht, dass sie in der gegenwärtigen Zeit eine Hauptrolle in der Weltkunst spielt«, jubelte einst Natalja Gontscharowa. Mit ihrem Überschwang traf die Künstlerin durchaus den Geist der Zeit. Seit 1910 etwa preschte das vorrevolutionäre Russland vor, die dortige Avantgarde überschlug sich. In schnellem Takt brachte sie im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts immer neue Ideen und Ausdrucksformen hervor: Kubofuturismus, Konstruktivismus, Suprematismus. Das Land im Osten hielt sich, wenn auch nur für wenige Jahre, an der Spitze der europäischen Entwicklung.
Doch wie kam es zu dieser kreativen Explosion? Eine entscheidende Voraussetzung war gewiss der rege Kunstaustausch mit Paris, das sich zu Europas unumstrittener Kunstkapitale aufgeschwungen hatte. Eben jenen folgenreichen russisch-französischen Dialog zeichnet das Düsseldorfer »museum kunst palast« nach. Anschaulich durch mehr als 120 Werke, die aus den vier wichtigsten Museen in Moskau und Sankt Petersburg stammen. Tretjakow-Galerie und Russisches Museum steuern vor allem Heimisches bei von etwa 40 Künstlern, darunter Repin, Gontscharowa und Larionow, Tatlin und Malewitsch. Puschkin-Museum und Eremitage schickten starke Stücke französischer Maler, von Pissarro bis Picasso, von Monet bis Matisse.
Das untereinander konkurrierende russische Museumsquartett für die ausstellerische Grußformel zusammen zu bringen und zur Herausgabe der besten Stücke zu bewegen, sei (auch politisch) nicht ganz einfach gewesen, hört man von Kuratoren wie Direktoren, »wahrscheinlich schwieriger als die Einigung Europas«, scherzte einer der Herrschaften. Auch deshalb wird der Coup in der Landeshauptstadt als Sensation gefeiert und als Politikum dazu. Glaubt man dem Ideengeber und Kunstgönner bei E.ON Ruhrgas, Achim Middelschulte, wäre die Ausstellung ohne die gewachsenen Unternehmenskontakte des Energie-Konzerns kaum möglich gewesen. Die Starbesetzung, das Name-Dropping allein garantiert Publikumserfolg. Doch hat Chefkurator Norman Rosenthal aus London mehr im Sinn, als mit Prominenz ein Event zu produzieren. Seine Schau verdeutlicht, wie sich die russische Kunst unter dem Einfluss der Pariser Produktionen wandelte. Auf welche Weise sie Anregungen nutzte, um Neues, Eigenes zu schöpfen. Parallele Entwicklungen hüben und drüben werden anschaulich – ebenso die wesentlichen Unterschiede zwischen Ost und West.
Der Rundgang startet 1870, ein sinnvolles Datum. Denn in jenes Jahr fällt die Gründung der »Genossenschaft für Wanderausstellungen«, kurz »Wanderer«. Eine Clique antiakademischer Realisten, die mit ihrer wirklichkeitsnahen, sozialkritischen Haltung Russlands Szene aufmischten.
Das Vorbild der französischen Freilichtmaler vor Augen, riefen auch sie nach mehr »Licht, Farbe und Luft«. Gleichzeitig warnten sie davor, über die Form den Inhalt zu vergessen. »Das Gesicht, die Seele des Menschen, das Drama des Lebens, der Eindruck der Natur, ihr Leben und Sinn, der Geist der Geschichte – eben das sind unsere Themen; Farben sind bei uns Waffen; sie sollen unsere Gedanken ausdrücken«, mahnte 1874 Ilja Repin, der namhafteste Wanders-Mann, am Ehrenhof mit nur zwei Gemälden schwach vertreten. Eines davon ist Repins lebensgroßes Porträt des barfüßig-bäuerlichen Leo Tolstoi. Es tritt in pointierte Zwiesprache mit dem Bildnis der mondänen Schauspielerin Jeanne Samary im Ballkleid, 1878 gemalt von Renoir. Lichttupfen und die direkte Darstellung des Nationaldichters erinnern an das impressionistische Vokabular. Viel wichtiger scheint für Repin aber die Botschaft; anders als bei Renoir strahlt hinter dem Bildnis das Ideal hervor. Tolstoi verkörpert, ärmlich und bescheiden, einen Mann, der alles Materielle hinter sich lässt, zu Gunsten des spirituellen, intellektuellen Daseins. Allmählich erst werden sich Repins jüngere Kollegen von den Zwängen des Inhalts befreien und den formalen, ästhetischen Qualitäten mehr Gewicht geben. Besonders in den Landschaftsbildern. Isaak Levitans 1889 vollendete Wolgagegend »Nach dem Regen« könnte fast von einem Franzosen stammen. Nach den Impressionisten sind es auch Symbolisten, die russische Maler beeindrucken. Gewiss den exzentrischen Michail Wrubel, dessen geheimnisvoll facettierte »Seraphim« von 1904 die Anverwandlung sichtbar sein lassen.
Während sich die russischen Künstler bis zur Jahrhundertwende Inspiration am besten direkt vor Ort in Frankreich holten, konnten sie später ebenso gut daheim bleiben und durch die Villen der Moskauer Großsammler streifen. Es waren zwei phantastisch reiche Textilhändler, die sich auf der Suche nach dem dernier cri in Pariser Galerien umtaten und binnen weniger Jahre einzigartige Kollektionen zusammenkauften. Dabei entsprach der Geist des Experimentierens und Erneuerns durchaus dem sich rasant entwickelnden Kapital. Der konservativere Iwan Morosow begeisterte sich vor allem für Cézanne. Der neugierigere, mutigere Sergej Schtschukin wechselte seine Vorlieben, schwärmte zunächst für Impressionistisches, um dann seine Passion auf Gauguin zu richten. Auch an Picasso kaufte er sich satt; An die 50 Werke finden sich in seiner Sammlung. Für Matisse bezahlte er schon hohe Summen, als dessen Bilder in seiner Heimat noch als Monstrositäten abgetan wurden.
Schtschukins Stadtvilla wurde bald zur Adresse für Liebhaber der französischen Avantgarde. Gelegentlich führte der Hausherr auch persönlich durch die voll gehängten Räume. Im Esszimmer blühte Gauguins Südsee, im Treppenhaus wirbelte Matisses monumentaler »Tanz« der rot glühenden Körper. Schtschukin hatte das Bild gemeinsam mit dessen Pendant »Die Musik« beim Maler in Auftrag gegeben, obwohl er offenbar noch Schwierigkeiten hatte mit den unbekleideten Akteuren des Reigens. Einem der Nackten ist er gar mit dem Pinsel zu Leibe gerückt. Deutlich sind noch die Spuren der Vertuschung am Genital erkennbar. Allerdings nicht in Düsseldorf. Denn anders als der in einem der drei Museumssäle prunkende »Tanz« musste die komplementäre »Musik« aus konservatorischen Gründen zu Hause bleiben. Das Kapitel Schtschukin/Morosow (1993 schon mit Hilfe von Ruhrgas im Museum Folkwang präsentiert) schwelgt mit Matisse, Cézanne, Gauguin: Initialzündungen für eigene Entwicklungen, von denen »Bonjour Russland« bildreich berichtet.
In den Werken junger Russen mischten sich etwa Gauguins kräftige Farben und Cézannes robuste Formen mit Traditionen ihrer Volkskunst. Sehr anschaulich bei Gontscharowa und ihrem Bauern-Bild von 1911. Dann spukten Kubismus und Futurismus durch ihre Köpfe und fanden auf die Leinwände. Wladimir Tatlin leitete mit seinen 3-D-Konstruktionen den Konstruktivismus ein. Kasimir Malewitsch wagte sich vor zur radikalen Abstraktion. 1915 entwirft er sein »Schwarzes Quadrat«, hier (problematisch gehängt) in einer Variante von 1923.
Das »Bonjour« könnte nun »Dobry« heißen – mit einem Hallo hatte Russland aufgeholt und sich auf Gegenwartskurs gebracht.
Bis 6. Januar 2008; Tel.: 0211/8996260; www.bonjour-russland.de