// Die Zukunft gehört den Gespenstern, behauptete einst der französische Philosoph Jacques Derrida und zielte mit seiner Prophezeiung auf die zunehmenden Möglichkeiten, durch fotografische Bilder Menschen der Zeit zu entreißen. Doch wie unheimlich sieht die Gegenwart derer aus, die sich das eigene Leben als Konserve vor Augen führen müssen?
Am Anfang von »Geister«, Thomas von Steinaeckers zweitem Roman, sieht Jürgen Kämmerer, wie seine Mutter ihn aus sich herauspresst, wie sie ihn dann glücklich lächelnd in den Armen hält und ein paar Tage später in eine Wiege legt. Vom ersten Tag an ist Jürgen unfreiwilliger Darsteller seines eigenen Lebens in einer Film-Dokumentation über seine Familie. Einer Dokumentation, in der Jürgens Schwester Ulrike die heimliche Hauptrolle spielt, obwohl und gerade weil es von ihr nur noch Fotos gibt. Ulrike ist mit sechs Jahren verschwunden und vermutlich Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Seitdem begleitet ein Fernsehteam die Kämmerers, filmt sie bei der nicht abzuschließenden, misslingenden Aufarbeitung des Verlustes, der Jürgen sich nicht stellen kann oder will. Stattdessen fühlt der Jugendliche sich eingeengt von den vielen Bildern im Elternhaus, auf denen seine Schwester zu sehen ist – als junges Mädchen, von der Kamera gleichsam eingefroren.
In vier Kapiteln seziert Thomas von Steinaecker, der mit seinem kühnen Familienroman »Wallner beginnt zu fliegen« im letzten Jahr ein viel versprechendes Debüt vorgelegt hat, in »Geister« das Leben eines weitgehend eigenschaftslosen und dabei fast unsympathischen Mannes. Mit kalt ausgeführten Schnitten zerlegt er die unspektakuläre, doch an Brüchen reiche Biografie Jürgens in Stationen, distanziert und teilnahmslos: Die Zeit im Internat, in dem Jürgen sich hinter der virilen Maske des Heavy-Metal-Fans versteckt; dann – Jürgen ist mittlerweile Physiotherapeut und Vater einer Tochter – die enttäuschende Begegnung mit einer Frau in Ungarn, die man fälschlich für die Schwester hielt; das Scheitern seiner Ehe; der berufliche Neuanfang in einem Wellnesscenter am Chiemsee; die zunehmende mentale Zerrüttung. Jürgen erfährt sein Leben als unwirklich, wie im Film. Wenn er an die Zukunft denkt, macht er »einen auf Schnellvorlauf«, bis er sich ganz in einer fiktiven Wirklichkeit verirrt.
Im »Türen, Fenster« übertitelten und fast die Hälfte des Romans füllenden letzten Kapitel wird die graue Existenz Jürgens auf gefährliche Weise bunt. Die Comic-Zeichnerin Cordula Maas, die aus dem Fernsehen von Jürgens Fall erfahren hat, macht ihm den Vorschlag, das Leben der Schwester zu borgen, um es unter dem Namen Ute fortzuzeichnen – angereichert mit eigenen biografischen Details. Fortan finden sich kleine Bildergeschichten der Illustratorin Daniela Kohl in den Roman eingelassen. Kurze Episoden, die schön anzuschauen sind, dem Roman aber nicht zwingend etwas hinzufügen. Sie fungieren als eine Art biografische Droge, die Jürgen in kurzer Zeit abhängig macht. Allwöchentlich wartet er gierig auf die Ute-Geschichten, in die die Zeichnerin auch ihn später integrieren wird. Allein die Veröffentlichungstermine des Internet-Comics geben seinem aus den Fugen geratenen Leben zeitweilig überhaupt noch Halt. So sind Kohls Bilder Sucht-Symptome einer Krankheit. Sie rührt von einer psychischen Verletzung her, die sich bewusst zu machen Jürgen jedoch nicht gelingt. Die Ursache dieser Verletzung, den vermuteten Tod der Schwester, beschweigt Steinaeckers ambitionierter Roman anspielungsreich und kunstvoll. Man könnte diese Abwesenheit als das traumatogene Zentrum von »Geister« bezeichnen. Erfahrbar ist es im Wuchern der bunten Bilder. Wie Vampire saugen diese Geister die Realität aus einem trostlosen Leben. Dabei ist es keine geringe Leistung Thomas von Steinaeckers, diese radikal antipsychologische Geschichte souverän am flachen Erleben seiner emotional ausgehöhlten Hauptfigur entlang geschrieben zu haben, ohne dabei den Eindruck von Fadheit zu hinterlassen. Denn »Geister« ist ein Roman, der nicht durch Farbigkeit glänzt, sondern in Grautönen leuchtet. //
Thomas von Steinaecker, Geister. Mit Comics von Daniela Kohl
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2008, 204 Seiten, 19,80 Euro