…ist der direkte Kontakt zum Publikum und der Tanz als die Kunstform, die unserem Alltag sehr nahe sein könnte. Ich habe schon früher als Tänzerin neben meiner Tätigkeit an den Stadttheatern in freien Produktionen arbeiten dürfen, die das Ruhrgebiet bespielt haben, konkret ein Zechengelände. Und ich habe damals schon gedacht, das ist etwas, das mich fasziniert. Das Ensemble, das ich leite, heißt „Tanzgebiet“. Der Name ist Programm. Wir gehen dahin, wo wir spannende Orte vermuten und machen sie zu Tanzgebieten.
Von manchen Stücken gibt es Bühnen- und Open-Air-Versionen. Mein Ensemble weiß, dass es bei Aufführungen regnen kann oder die Sonne einem auf den Kopf knallt. Der Boden kann aus Asphalt, Kiesboden oder Gras sein. Wir rechnen damit. Es kann auch sein, dass es nicht völlig still im Publikum ist, dass es überraschende Geräusche gibt, vielleicht ein Feuerwehrauto, vielleicht ein schreiendes Kind. Das ist Leben. Und ich möchte meine Kunst und das Leben nicht voneinander trennen.
Als ich am Stadttheater selbst getanzt habe, war ich immer ein bisschen traurig, dass ich das Publikum nicht sehen konnte. Ich wusste nie, was die Menschen denken, ob sie begeistert sind oder nicht. Und wenn man open air spielt und Leute vorbeikommen oder auch gehen, weil es sie überhaupt nicht interessiert, bin ich im direkten Dialog mit ihnen. Besonders freue ich mich, dass ich nun schon zum zweiten Mal zum Bagdad International Theatre Festival eingeladen worden bin. Eine international arbeitende Dramaturgin hatte anscheinend meine Arbeit empfohlen. Dann bekam ich im Sommer einen Anruf, ob ich im Herbst nach Bagdad kommen wolle. Das war für mich erstmal etwas verwirrend, aber das ist immer so kurzfristig. Dann sind mein Ensemble und ich dahin gefahren. Ich habe auch zehn Tage lang jeden Tag drei Stücke aus der ganzen Welt gesehen, aus dem arabischen Raum, den USA, aus Südamerika und aus Europa. Da habe ich große Produktionen gesehen, die denen der Ruhrtriennale in nichts nachstanden.
Besonders interessant fand ich das Publikum. Es ist sehr lebendig und begeisterungsfähig, aber auch knallhart. Bei einer Shakespeare-Aufführung ist die Hälfte des Publikums gegangen, und da reden wir von über 1000 Leuten. Beim Applaus schafft man es gerade einmal sich zu verbeugen, dann stürmt das Publikum die Bühne und sucht den direkten Kontakt. Ich war sehr froh, dass ich das schon ein paarmal erlebt hatte, bevor wir selbst gespielt hatten. Da konnte ich das Ensemble ein bisschen vorbereiten. Es war wunderschön. Ich hab mich riesig gefreut, als jetzt die erneute Einladung kam. Die Erlebnisse in Bagdad sind in vieler Hinsicht prägend. Da bittet der Festivalleiter das Publikum, ihre Handys ein bisschen leiser zu stellen und beim Fotografieren bitte keinen Blitz zu verwenden. Natürlich machen die Leute auch Videos. Das ist aus westeuropäischer Sicht unvorstellbar. Aber dann erlebt man dieses junge, lebendige Publikum, 80 Prozent sind unter 30. Und man fragt sich, stört das nicht, wenn bei denen das Handy klingelt. Dann passiert das während der Vorstellung. Und es ist gar nicht so schlimm. Wir haben oft so eine Angst, dass wir Regeln brechen könnten. Aber ich fände es völlig okay, wenn ab und zu ein Handy klingelt und dafür Tausende junge Menschen im Publikum sitzen. Was mich grundsätzlich bewegt, ist natürlich schon immer der Tanz.
Ich glaube, dass Bewegung etwas erzählen kann, das nicht so fassbar ist wie ein Wort.
Jelena Ivanovic
Ähnlich wie eine Musik oder eine Farbe. Sie ist nicht so klar definierbar. Dadurch lässt sie Raum, dass Menschen ihre Fantasie beim Betrachten des Tanzes hinzufügen können. Außerdem ist Tanz etwas, das alle Menschen machen, in der Küche, beim Staubsaugen, auf der Party, auf Hochzeiten. Es ist eine sehr nahbare Kunst. Wir haben sie nur etwas abstrahiert und entfernt von unserem Alltagsleben, was ich übrigens sehr schade finde. Ich suche auch nicht die absolute Perfektion. Wer meine Arbeiten gesehen hat, der sieht Tänzer auf der Bühne, aber auch Schauspieler, Puppenspieler, Musiker, auch Laien. Es gibt für mich keine schlechte oder perfekte Bewegung. Es geht mir darum, dass ich mit meinem Körper etwas erzähle, das vielleicht mit der Sprache nicht fassbar ist.
Jetzt gerade bewegt mich das Thema der Ängste. Ich erlebe immer mehr, dass Leute in Ängsten gefangen sind. Vor der Zukunft, davor selbst nicht auszureichen. Auch an mir nagt das Alter. Ich spüre einen gewissen Druck. Diese Ängste und die vielen Krisen sind wie eine Spirale, die uns in ein dunkles Loch zieht. Und ich frage mich, wie wir resilient sein können, trotzdem Energie aufbringen, Mut entwickeln. Ich glaube, das Theater kann dazu einen Beitrag leisten, aber nicht indem das Publikum nur betrachtet. Ich bin kein Freund des puren Konsumierens von Kunst. Ich möchte den Austausch, untereinander zwischen Künstlern, mit dem Publikum. Ich glaube, die Begegnung kann eine Kraft entwickeln, die gegen die Angst helfen kann.
Aufgezeichnet von Stefan Keim
Name: Jelena Ivanovic
Alter: 49
Beruf: Choreografin, Tänzerin und Kulturmanagerin
Wohnort: Essen
Ihr Stück „Hinter Gottes Füßen“ nach dem Roman „Wieder Soldat das Grammophon repariert“ von Saša Stanišić hat Jelena Ivanovic im Sommer am Schauspiel Essen und open air an verschiedenen Orten in NRW gespielt. Nun reist sie mit ihm in den Irak.