Wenn es mit den Grenzziehungen so einfach wäre (andererseits, wie langweilig würde eindeutige Kategorisierung sein). Das Theater hat immer konträre Positionen umspielt und ausgespielt, an denen sich Widerstände und Reibungen bilden. Man denke – nicht ganz wahllos herausgegriffen, weil es auch emotionale Impulse und die intellektuelle Grundausrüstung desjenigen beschreibt, der etwas zu bilanzieren versucht – an Piscators revolutionäre Bühnenbewegung und Kortners Tiefenbohrungen, die keine Konvention anerkannten, an Zadeks frech entertainende Lust, an Grübers und Bondys Menschen-Erkundungen, an Schleefs die Antike, Bach, Wagner und Hauptmann zusammenführende dramatische Oratorien, an Castorfs und Schlingensiefs Anarchie, an die ästhetische Revolte des frühen Robert Wilson und späten Jürgen Gosch, an Pina Bausch, Chéreau usw. Das alles bekam Raum im deutschsprachigen Stadttheater – oder wurde dort hinein, oft nach Kämpfen, integriert. Wenn Marietta Piepenbrock, Programmleiterin von Chris Dercons Post-Castorf-Volksbühne, von Theater als »Schule des Befremdens« spricht, ist das nichts Besonderes, sondern selbstverständlich. Was denn sonst? Das Gegenteil hieße: Affirmation.
Wenn wir aktuell vom Stadttheater sprechen, ist damit noch herzlich wenig gesagt, angefangen beim Ort, dem Publikum, einem jeweils definierten Auftrag, seinen – nicht selten krass problematischen – Bedingtheiten. (Übrigens, die Aussage, mit der regelmäßig ein neuer Intendant antritt, er wolle Theater für die Stadt machen, ist eine Plattitüde.) Das Schlosstheater Moers ist Stadttheater, das Düsseldorfer Schauspielhaus ebenso, die Münchner Kammerspiele sind es, die Berliner Volksbühne ist es (und wird es bleiben, irgendwie), das Theater Bielefeld und das Volkstheater Rostock auch. Man sieht die Spannweite.
Die aktuell größte (vermutlich ebenso poröse) Trennlinie geht zwischen dem Sprechtheater mit seinem klassischen und Gegenwarts-Repertoire (in das die inflationär eingesetzten Roman- und Film-Adaptionen und Überschreibungen gehören) und dem performativen Theater mit seinen speziellen Formaten und seiner Zuschauer-Teilhabe, deren Protagonisten so wenig unter einer Überschrift zu subsumieren sind wie die Kollegen von der anderen Front. Und fraternisiert wird überall. Thomas Oberender unterscheidet lieber das »Theater der Interpreten« vom »Theater der Kreationen«.
Die Verabsolutierung der Gegensätzlichkeit, fest gemacht an an den schwierigen Begriffen »Identifikation« und »Authentizität«, ist ein Missverständnis. Die Attacke des Dramaturgen Bernd Stegemann (SZ, 3.1. 2017) spitzt das zu. Sein Plädoyer für Drama, mimetisches Spielen, komplexe Konfliktaufladung eines Theaters, »das sich seit der Antike nicht damit begnüge, die Präsenz der gemeinsamen Gegenwart zu feiern«, wendet sich gegen den angeblichen Selbstzweck des Performers, dessen Ego-zentrische »falsche Naivität« und behauptete »Unmittelbarkeit des Authentischen«, die Stegemann kühn mit dem grassierenden politischen Populismus gleichsetzt.
Das blieb nicht unwidersprochen und wurde gekontert mit dem auch sozial argumentierenden Plädoyer für ein »pluralistisches Theater« samt Abbau von Schwellenängsten, für Internationalisierung, für die Laborsituation, Erlebnisstation und Kommentarebene, für Genre-Öffnungen und Kooperationen zwischen Theater und anderen Institutionen usw., die gerade von Performern geleistet worden seien (der Dramaturg Christian Holtzhauer, SZ, 20.1. 2017).
Realitäts-Verdichtung, Umformung, Verwandlung von Erfahrung, Ausdeutung gilt aber – im besten Fall – hier wie dort. Um es mit Shakespeares Shylock zu sagen: »Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?…« Als würden der traditionelle Realismus-Ansatz einer Andrea Breth und das Diskursive u.a. von She She Pop, Gob Squad, Rimini Protokoll, René Pollesch, Milo Rau, Yael Ronen nicht jeweils am Projekt Mensch arbeiten. Wenn es trifft, blutet es.
Tritt man einen Schritt zurück, eröffnet sich auf dem weiten Feld ein anderes mögliches Gegensatzpaar: gesellschaftlicher Auftrag versus künstlerische Autonomie. Auftrag, aber in wessen Namen? Oder ist es Selbstermächtigung zur Pflicht, die Welt zu verbessern? Wobei das reine Spiel sich nicht am interesselosen Wohlgefallen erschöpft, das Engagement nicht verbissen die Zähne zeigt. Das, was Klaus Mann emphatisch »die Synthese von Moral und Schönheit« nannte, ist nicht leicht herzustellen. Obwohl die Zeiten, die Fakten und Fiktion nicht mehr zu unterscheiden willens sind, gerade wieder danach aussehen, dass es nötig würde.
Protagonist einer dieser Positionen, der, wenn man so will, kunst-autarken, ist der Regisseur Herbert Fritsch. Die Inszenierungen von Fritsch, der das Theater von Beschwernissen befreit, ernst macht mit Komödie, Klamotte, Kalauer und mit der Katastrophe und dabei Glückshormone und Antidepressiva ausschüttet, stehen im Spannungsverhältnis von produktivem Aufbau und konstruktiver Zerstörung. In seinen musikalisch-rhythmisch choreografierten Nervenkriegen gibt es nur einen Helden: den hoch artistischen Schauspieler.
Auf der Gegenseite – jetzt etwas pauschal polarisiert – sind Namen zu nennen wie Volker Lösch mit seinen agitatorischen Brandsätzen, die Friede den Hütten und Krieg den Palästen verkünden (u.a. seine Dresdner Weber« von 2004); oder Hans-Werner Kroesinger mit dem dokumentarischen Ansatz seiner akribisch-spröden Projekte, die historische oder gegenwärtige Schandtaten aufdecken; oder etwa auch die szenisch bunten, konfliktgestählten, gallig-humorigen Gruppen-Erfahrungen der israelischen Theatermacherin Yael Ronen.
Viele Aspekte und Fragen: Wie kann Theater im 21. Jahrhundert relevant sein; inwiefern nützen oder schaden hierarchische Strukturen und schaffen letztere auch einen Angst-Ort; wie lässt sich die Forderung nach niedrigschwelliger Kulturvermittlung mit dem Anspruch Kunst und der sogenannten Hochkultur vereinen; was bedeuten der Wechsel der Öffentlichkeit mit neu gewonnenen Zuschauern, migrantischen Gruppen, geänderten Konsum-Gewohnheiten, einem Abstandnehmen der Politik, der Reaktion auf Krisen; und sind schnelle, schlichte Antworten der Bühne nicht auch eine Form von Populismus, dem doch unsere Abwehr und Ablehnung gilt?
Die Sache wird kaum einfacher, wenn man das Qualitäts-Kriterium einführt. Darstellungsroutinen gibt es unabhängig von etabliertem oder »freiem« Theater, von Konvention oder Experiment, Spiel oder Ernst. Egal, ob es sich um eine Inszenierung von Kleist, Schiller, Tschechow, Botho Strauß oder Jelinek handelt oder um die dokumentarische Bestandsaufname des »Kongo Tribunals« – es muss in sich geschlossen sein und sich innerhalb des selbst gesetzten Systems und Anspruchs erfüllen.
Theater ist – mehr als der Film, mehr als die Oper – die Institution, an die wir Repräsentations-Aufgaben delegieren, und das ist nicht im Sinn feiertäglichen Rituals gemeint. Hier spielt sich eine Gesellschaft in aller Öffentlichkeit Regeln ihres Funktionierens vor, sagt der Soziologe Dirk Baecker. Also: »Was soll das Theater?«
2. APRIL 2017, 11 UHR, DÜSSELDORFER SCHAUSPIELHAUS / CENTRAL AM HAUPTBAHNHOF: »WAS SOLL DAS THEATER? – BÜHNEN UNTER DRUCK: GESELLSCHAFTLICHER AUFTRAG ODER KÜNSTLERISCHE AUTONOMIE?«;
AUF DEM PODIUM DISKUTIEREN:
MARC GRANDMONTAGNE, GESCHÄFTSFÜHRENDER DIREKTOR DES DEUTSCHEN BÜHNENVEREINS;
HERBERT FRITSCH, REGISSEUR;
WILFRIED SCHULZ, GENERALINTENDANT DÜSSELDORFER SCHAUSPIELHAUS;
ANDREAS WILINK, CHEFREDAKTEUR K.WEST;
MODERATION: BARBARA BURCKHARDT, »THEATER HEUTE«.