// Die Gardinen sind weiß und akkurat angebracht. Nicht von der Art, dass Laurenz Berges sich für sie interessieren könnte. Doch sie bewegen sich. Hinter dem Fenster im ersten Stock des unauffälligen Mehrfamilienhauses auf der anderen Straßenseite gibt sich jemand ganz offensichtlich Mühe, bemerkt zu werden. Es klopft gegen die Scheibe, zunächst leise, dann lauter. Eine Hand ist zu sehen, die uns zu verstehen geben will, dass wir hier nichts zu suchen haben. Dann ist Ruhe. Kurz darauf erscheint eine kräftige ältere Frau mit kurzen grauen Haaren auf dem Treppenabsatz. Die eben noch aufgeregt herumfuchtelnde Hand hat sie nun demonstrativ in die Hüfte gestemmt. So, als erwarte sie ihre Enkel mit verdreckten Sonntagshosen vom gegenüberliegenden Bolzplatz zurück. Schwer zu sagen, ob ihre Neugierde oder ihr Ärger größer ist. Laurenz Berges kennt, was jetzt grußlos folgt.
»Was suchen Sie da?«»Wir gucken uns nur das Gebäude an. Wir wollen da vielleicht ein paar Fotos machen. Das gehört der RWE, oder?«»RWE? Das ist ein anderer Eingang. Haben Sie eine Anmeldung dafür?«»Nein, aber vom Bürgersteig aus darf ich ja gucken.«»Da stimmt doch irgendwas nicht. Machen Sie das von sich aus?«»Ja.«»Aber das bringt Ihnen ja nichts. Denn da ist ja keiner drin.«»Aber ich kann auch Fotos machen, ohne dass darauf Menschen zu sehen sind.«»Aber das ist RWE. In dem Haus ist nichts, und da kommen Sie ohne Anmeldung nicht rein.«»Klar.«»Ich möchte ja nur nicht, dass Sie da stehen und dann nichts erreichen.«Karnap, nördlichster Stadtteil von Essen. Anfang der 1950er Jahren gab es hier mehr Arbeitsplätze als Einwohner. Dann kam die Kohlekrise. 1972 stellte die Zeche Mathias Stinnes die Förderung ein. Der Rasenplatz des »Stadion Mathias Stinnes« ist noch immer in Betrieb. Auch wenn es nicht danach aussieht. Früher trug die TSG Karnap 07, der damals zweitgrößte Verein der Stadt, hier ihre Heimspiele aus. Heute kicken im »Stadion Mathias Stinnes« Freizeitmannschaften wie der FC Lockermacher.
Die verwitterten Steintreppen der aufgeschütteten Tribünen haben es Berges angetan, genauso wie das ehemalige Tennisvereinsheim, das sich am Rande des maroden Geländes befindet. Einige der von weißen Gittern geschützten Fenster sind vernagelt, die Butzenscheiben im oberen Stockwerk kaputt. Die hölzernen Außenja- lousien hängen schief in ihren Vorrichtungen und der staubgeschwärzte Putz ist rissig. Aus dem Schornstein des Hauses wachsen Birken heraus. Die kleinen Schaukästen am Eingang des Vereinsheims sind mit einer schwammartig verkrus-teten, braunen Kleisterschicht überzogen. Irgend- wann hat man sich offensichtlich nicht mehr die Mühe gemacht, die Clubnachrichten hinter die Glasscheibe zu platzieren, sondern hat sie einfach von außen aufgeklebt. Das könnte ein Motiv sein, sagt Berges und simuliert mit den Händen den Bildausschnitt. Wenn nur die Sonne nicht so ungünstig stände, und wenn nicht diese Frau ihr Misstrauen gegen die Fensterscheibe klopfen würde. Aber es ist ja andererseits auch nicht immer so einfach zu verstehen, dass da jemand fotografieren möchte, was andere am liebsten abreißen lassen würden.
Wir sind unterwegs auf der Suche nach einer Sichtweise auf das Ruhrgebiet. Laurenz Berges ist einer von elf Fotografen, die für das Ruhr.2010-Projekt »Ruhrblicke« ausgewählt worden sind, um im Revier zu fotografieren. Es sind Vertreter einer konzeptionellen, künstlerischen Dokumentarfotografie: Hilla Becher, Candida Höfer, Andreas Gursky, Jörg Sasse, Thomas Struth, die genauso wie Laurenz Berges für die Düsseldorfer Fotoschule stehen, dazu Joachim Brohm, Hans-Peter Feldmann, Jitka Hanzlová, Matthias Koch und Elisabeth Neudörfl. Abgesehen vom Ort, sind ihrer Arbeit thematisch keinerlei Grenzen gesetzt. Im April sind die eigens für »Ruhrblicke« angefertigten Fotos dann in der Zollverein School zu sehen. Ganz sicher werden das dann nicht jene immer gleichen industriekulturellen Imagebroschüren-Ansichten sein, in denen sich die brummende Kreativwirtschaft des Reviers bunt in Szene setzt.
Wie die meisten der teilnehmenden Fotografen, hat auch Laurenz Berges einen biografischen Bezug zum Ruhrgebiet. Bevor der 1966 im niedersächsischen Cloppenburg Geborene als Meis-terschüler Bernd Bechers von 1992 bis 1996 an der Düsseldorfer Kunstakademie studierte, war er von 1986 an der Folkwang Hochschule eingeschrieben. »Wenn ich aus meiner Wohnung in der Altenessener Straße aus dem Fenster geschaut habe, konnte ich drei Spielhallen sehen«, sagt Berges. Gut 20 Jahre später ist noch eine dazugekommen. Die Fahrt zum »Stadion Mathias Stinnes« führte vorbei am Gelände des »Deutschen Foxterrierverband e.V.« und am »Fingernagelstudio Parisi«, an Pfandhäusern, Pizzerien und Büdchen. »Wir fahren auf Sicht«, hatte Berges gesagt und dann hier und da darum gebeten, abzubremsen. Dann waren am Straßenrand alte Eingangstüren zu sehen, die noch aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu stammen schienen.
Das ehemalige Tennisvereinsheim auf dem Sportlatz »Stadion Mathias Stinnes« in Essen.
Die Meteorologen hatten für diesen Donnerstag den heißesten Tag des Jahres angekündigt und Recht behalten. Aus dem Innern des ehemaligen Tennisheims strömt nicht frische, aber überraschend kühle Luft. Soweit sich das durch das halb geöffnete Fenster erkennen lässt, könnte Laurenz Berges darin tatsächlich finden, was er sucht. Hier wurden ganz unterschiedliche Zeiten und Stile verbaut. Der Boden ist gefliest, die Kassettendecke aus groben Spanplatten zusammengenagelt und die Säulen sind gold abgesetzt. »Vielleicht ein bisschen zu abgerockt«, sagt Laurenz Berges. »Wenn es zu kaputt ist, kann ich nichts damit anfangen.«
Anders als der erste Blick auf seine Bilder von leeren Räumen und funktionslosen Gebäuden vermuten lässt, hält Berges mit der Kamera nicht Zerstörung, sondern Leben fest. Ein Spurensucher« sei Berges, dem es um Themen wie »Veränderung, Verlust und Geschichte« gehe, sagt Thomas Weski, der Kurator der »Ruhrblicke«. Bekannt wurde Laurenz Berges mit seiner Serie über leer stehende Sowjet-Kasernen in der ehemaligen DDR. Ende der 1990er Jahre nahm er sich dann des geräumten Geisterdorfes Etzweiler im Garzweiler II-Gebiet mit der Kamera an, bevor die Kohlebagger es endgültig abtragen konnten. Da fotografierte Berges, was nicht mehr war, indem er Abnutzungserscheinung in den Blick bekam: den speckig grau-grünen Streifen an der Wand oberhalb des längst umgezogenen Sofas, die Abwesenheit des Einbauschrankes, der sich als anders farbige Tapete abzeichnet, weil bei der letzten Renovierung um das Möbel herum tapeziert wurde. Dabei verwandelte Berges die Trostlosigkeit des geräumten Etzweiler in abstrakte Farbflächen, komponierte nüchtern Muster, ohne dem Ort seine Melancholie zu nehmen. Dieses Interesse an Dingen, die ihre Funktion verloren haben, ist vermutlich keine schlechte Voraussetzung, um im Ruhrgebiet zu fotografieren.
»Tote Flächen« nennt Laurenz Berges, was sich häufig dort findet, wo neu gebaut wurde. Flächen, auf denen die Zeit noch keine Fingerabdrücke hinterlassen hat. Abgelagerte Geschichte – ob es das sei, was er festzuhalten versuche? Das klinge dann doch ein bisschen pathetisch, sagt Berges. »Kann man aber sagen.« Sehen kann man es in der 1907/08 erbauten Bergarbeitersiedlung Phoenixstraße. Die Sanierungsarbeiten sind weit fortgeschritten. Doch auch hier gibt es noch vom Wasser ausgespülte Fassaden, vernagelte Fenster oder leer stehende Häuser. Schwer zu entscheiden, wo die Gärten hinter den fertig renoviertem Häusern anfangen und die Baustelle aufhört. Aber es ist an diesem Tag zu sommerlich, um zu fotografieren. Die Farbigkeit passe nicht zu dem, was er mit dem Ruhrgebiet verbinde, sagt Berges. »Das ist nicht mein Licht. Es ist zu hart. Wenn es zu bunt wird, sieht es amerikanisch aus, artifiziell.«
Zurück nach Essen. Am Ende einer kleinen Gasse, nur ein paar Schritte entfernt vom Rhein-Herne Kanal, steht ein braunes Holzhäuschen mit weißen Zierleisten, zugeschraubten grünen Fensterläden und verwitterten Dachziegeln. Eine siebenköpfige Familie soll hier mal gewohnt haben. Das meinte einer der Männer zu wissen, mit denen Laurenz Berges, ohne es zu wollen, häufig ins Gespräch kommt, wenn er irgendwo seine Kamera aufbaut und zu fotografieren beginnt. Der hatte den Tipp, sich mal in der Obringer Voerde umzusehen, wo an diesem Tag Deutschland-Fahnen in den Vorgärten wehen. Geschäftig fährt ein Anwohner das Tor seiner tadellos aufgeräumten Garage hoch und sofort wieder runter, um einen auffällig unauffälligen Blick auf die Herren zu riskieren, die sich an der verlassenen Immobilie zu schaffen machen. Endlich ist mal was los in der Obringer Voerde.
»Wissen Sie, wem dieses Häuschen hier gehört«, fragt Laurenz Berges eine Frau, die dabei ist, ihren Einkauf ins Haus zu tragen.»Mein Mann sagt, das gehört der RWE. Warum?«»Ich will Fotoaufnahmen machen.«»Sind Sie von der Zeitung, oder so?«»Fotograf bin ich.«»Fotograf? Für n’ Neuen Anzeiger?«»Ich mache künstlerische Aufnahmen für Ausstellungen.«»Ach so. Aber ist das künstlerisch?«»Na, kommt darauf an, was man daraus macht. Vielleicht wird’s ja was.«
Berges sagt das sehr uneitel und nicht herablassend. Es wurde an diesem Tag dann aber doch nichts mehr mit dem Fotografieren. Zu hell. Zu heiß. Zu belebt, um mit der Kamera in verlassene alte Häuser einzusteigen. Denn es gibt immer und überall jemanden, der aufpasst, dass nichts kaputt geht. //