Wie für jedes Handwerk, gibt es auch für die Kriegsfotografie eine Faustregel. Formuliert hat sie einst der ungarische Foto-Reporter Robert Capa: »Wenn deine Bilder nicht gut genug sind, warst du nicht nah genug dran.« Capa schaute mit seinen Fotos wie kaum ein anderer Soldaten beim Töten über die Schulter. Doch er hat seine teilnehmende Berichterstattung 1954 mit dem Leben bezahlt. Man darf allerdings bezweifeln, dass das fotografische Mittendrin-statt-nur-dabei Aufnahmen ermöglicht, die dem Betrachter über den Schock hinaus tatsächlich eine Ahnung davon geben, was Krieg bedeutet. Was sagen uns aus kurzer Distanz abgelichtete Kampfhandlungen mehr, als dass sie stattgefunden haben?
Anders die Fotografien, die das Museum Folkwang in der von der Tate Modern konzipierten Ausstellung »Conflict Time Photography« zeigt. Sie umfassen eine Zeitspanne von mehr als 150 Jahren, und sie haben den vermeintlich entscheidenden Gefechtsmoment, dem Capa nachjagte, allesamt verfehlt. Manche nur um ein paar Minuten, andere um fast ein Jahrhundert. Dafür ließen sich technische Gründe anführen. Denn bis zur Erfindung der handlichen Kleinbildkamera war es den Pionieren der Kriegsfotografie schlichtweg nicht möglich, Kampfhandlungen so brutal direkt, unmittelbar und manchmal auch voyeuristisch abzulichten, wie der Betrachter es im 20. Jahrhundert gewohnt war. Heute hingegen ist die Kriegsberichterstattung Teil der Kriegsführung geworden, und die kon-trollierende Einbettung der Fotografen verhindert, dass sie dem Geschehen mit der Kamera zu nahe kommen. »To go to the front«, so nannten Reporter während des Golfkriegs ironisch den Umstand, dass man ihnen in den Medienräumen der militärischen Stützpunkte Videos von vermeintlich präzisen Raketeneinschlägen der westlichen Alliierten vorführte.
Die meisten der für die Ausstellung ausgewählten Fotografen aber haben sich ganz bewusst dafür entschieden, ihre Bilder des Krieges in den Spuren zu suchen, die er hinterlassen hat – in Städten, Landschaften genauso wie auf Körpern und Gesichtern. Toshio Fukada drückt am 6. August 1945 zwanzig Minuten nach dem Atombombenabwurf in Hiroshima auf den Auslöser. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich der Siebzehnjährige etwa eine Meile vom Hypozentrum der Explosion entfernt. Überleben konnte er nur, weil das Artilleriedepot, aus dem heraus er die Kamera auf die Pilzwolke richtete, von einem Hügel abgeschirmt wurde. Seine Bilder halten ein Spektakel aus Staub und Asche fest, das kaum erahnen lässt, was da vor sich geht. Auch der Fotojournalist Don McCullin zeigt den Soldaten nicht im Gefecht. Ihm dient 1968 das Gesicht eines US-Marine als Spiegel, um das Grauen des Vietnam-Kriegs festzuhalten. Der unter Granatschock stehende Mann muss Schreckliches erlebt haben. Ausdruckslos starrt er Richtung Kamera, der Helm verschattet seine Augenhöhlen, während er mit den verschmutzten Händen Halt an seinem Gewehrlauf sucht. In Luc Delahayes 2001 während eines US-Bombenangriffs auf eine Taliban-Stellung entstandener Aufnahme hängt dann nur noch ein zartes, dunkelgraues, irgendwie harmloses Rauchwölkchen über dem von Gräben durchzogenen afghanischen Boden.
Die drei Fotografien sind chronologisch mehrere Jahrzehnte voneinander entfernt und geografisch Tausende Kilometer voneinander getrennt. Doch sie finden sich in der Ausstellung dicht nebeneinander gehängt. Denn das Ordnungsprinzip, dem »Conflict Time Photography« folgt, stellt sich quer zu Raum und Zeit, Schauplätzen und Kriegen. Als der japanische Fotograf Shomei Tomatsu nach Nagasaki reist, um sich dort mit den Folgen des Atombombenabwurfs auseinanderzusetzen, kommt es ihm vor, als wäre die Zeit in der Stadt mit der Detonation zum Stillstand gekommen, während das Leben außerhalb Nagasakis weiterging. »Nagasaki hat zwei Zeiten. Es gibt 11:02 am 9. August 1945. Und es gibt all die Zeit seither«, schreibt Tomatsu. Sein 1966 erschienener Bildband trägt dieser Beobachtung auf dem Cover mit der Aufnahme einer zerstörten, um 11:02 Uhr stehen gebliebenen Uhr Rechnung.
Der Krieg ist eine so starke Zäsur, dass er die Geschichte von Menschen in ein Davor und ein Danach teilt. Simon Baker, der die Ausstellung für die Tate Modern kuratiert hat, beruft sich auf Tomatsus Beobachtung und ordnet die Fotografien – Reportagen wie künstlerische Arbeiten – entlang einer Achse an, auf der der Krieg, egal welcher, als Stunde Null fungiert. Da hängt Roger Fentons 1854 entstandene Aufnahme »The Valley of the Shadow« zwischen Pierre Antony-Thourets Dokumentation des im Ersten Weltkrieg zerstörten Reims, gefolgt von Sophie Ristelhuebers Luftaufnahmen, die sie nach dem Ende des ersten Golfkriegs in der zerfurchten kuwaitischen Wüste angefertigt hat. Da schaut Richard Peter 1945 vom Rathausturm auf die Trümmerlandschaft Dresden herunter, während Diana Matar versucht, sieben Monate nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes menschenleere Orte als Szenerien lange zurückliegender Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren.
Was passiert im Kopf des Betrachters, wenn die historischen und geografischen Unterschiede durch die Abfolge der Bilder eingeebnet werden? Wenn die Aufnahmen des Krimkriegs, des deutsch-französischen Kriegs, des Ersten und Zweiten Weltkriegs, der Bürgerkriege in Amerika, in Angola oder im Libanon, der Kriege in Vietnam, am Golf und in Afghanistan, wenn also die Fotografien all dieser Konflikte aus ihrem Kontext gerissen und neu angeordnet werden – abhängig allein davon, ob das Bild Tage, Wochen, Monate, Jahre oder ein Jahrhundert später entstanden ist? Zunächst einmal gelingt es der Ausstellung so, all die naheliegenden Fragen zu unterlaufen, die reflexartig auftauchen, wenn es um die fotografische Darstellung des Krieges geht. Wahrhaftigkeit, Inszenierung, Ästhetisierung, Dokumentation, Manipulation – mit diesem Begriffsinstrumentarium wird man »Conflict Time Photography« kaum gerecht. Was die Anordnung stattdessen sichtbar macht, ist die Trauerarbeit der Fotografie. Albert Renger-Patzsch nimmt noch während des Zweiten Weltkrieges die Trümmerlandschaft Essen auf, August Sander und Hermann Claasen halten in ihren Bildern ein paar Jahre später die Zerstörung Kölns fest. Knapp 35 Jahre später entstehen dann weniger schreiende Verlustanzeigen. Auf den ersten Blick beziehen sie sich nicht mehr erkennbar auf den Krieg, doch wer genau hinschaut, erkennt die urbane Narbenbildung: In Schwarzweiß hat der im letzten Jahr gestorbene Fotograf Michael Schmidt 1980 menschenleere Unorte wie Parkdecks und Passagen in West-Berlin fotografiert. Fokussiert werden Baulücken und Brachflächen. So machen die Aufnahmen uns bewusst, dass etwas fehlt. Sie führen das architektonisch Unbewältigte vor Augen und sensibilisieren den Betrachter für das Nachwirken des Zweiten Weltkrieges bis in die Gegenwart, in der sie entstanden sind.
Deutlicher noch löst sich das Konzept der Ausstellungsmacher in jenen Bildern ein, die sich mit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki auseinandersetzen. Zwei Wochen nach der Explosion findet Matsumoto Eiichi mit dem Sucher auf einer Wand des Militär-Hauptquartiers in Nagasaki einen schwarzen Fleck, der die Form eines menschlichen Körpers hat. Dabei handelt es sich um den Schattenriss eines Wachpostens, der sich in das Holz eingebrannt hat. Acht Jahre später erscheint mit »Hiroshima« eines der ersten Bücher, das das Ausmaß der Zerstörung in dramatischen Bildern zeigt. Dreizehn Jahre nach der Katastrophe interessiert sich Ken Domon dann für die Langzeitfolgen des Abwurfs und blickt mit der Kamera in geblendete, gespenstisch pupillenlose Kinderaugen.
Kikuji Kawada findet in seinem Fotobuch »Chizu (The Map)«, das auf den Tag genau zwanzig Jahre nach der Detonation in Hiroshima erscheint, dann eine andere, nicht mehr der Dokumentation verhaftete Bildsprache. Der Fotograf wird zum Archäologen. Dafür vereinte Kawada Aufnahmen der sogenannten Atombombenkuppel, eines Gebäudes, das 140 Meter von der Explosionsstelle entfernt stand und heute als Gedenkstätte fungiert, mit Fotografien von Erinnerungsstücken japanischer Piloten. Die kontrastreich-expressiven, ins Abstrakte tendierenden Schwarzweiß-Bilder wirken wie Zeugnisse aus einer fernen Zeit und reflektieren so auch das Gedenken selbst.
Nobuyoshi Araki richtet am 6. August 2010, also genau 65 Jahre nach dem Abwurf, die Kamera Richtung Himmel. Das wäre ein unspektakuläres Bild eines ganz normalen Tages, hätte Araki nicht in der rechten unteren Ecke das Datum der Aufnahme eingestellt: »’10 8 6«. So ist die Erinnerung dem Bild als abstrakter Code eingeprägt. Die Nachkriegszeit endet nie.
Neben »Conflict Time Photography« ist im Foyer und in den Gängen des Museum Folkwang ein Klassiker zu besichtigen. Mit »The Americans«, zunächst auf Französisch erschienen, hat der in der Schweiz geborene, in den USA lebende Fotograf Robert Frank 1958 eines der einflussreichsten Fotobücher geschaffen. Darin zeigte er Land und Leute so, wie die Amerikaner sich selbst nicht unbedingt gerne sehen wollen. Das Vorwort schrieb damals Jack Kerouac, und der attestierte Frank, ein tragischer Welt-Poet zu sein. Anders als mancher Großkünstler, ist Frank aber wenig von den Verwertungsmechanismen des gefräßigen Kunstmarktes begeistert. Und der Musealisierung des eigenen Werkes möchte der 91-Jährige auch nicht vorarbeiten. Also hat er zusammen mit seinem Verleger Gerhard Steidl eine Ausstellungsform erarbeitet, die diesen Bedenken Rechnung trägt: Als erste Station überhaupt zeigt das Museum Folkwang Franks Filme und eine Auswahl von Bildern aus seinen Fotobüchern – gedruckt auf Zeitungspapier. Am Ende einer jeden Ausstellungs-Etappe will Steidl persönlich dafür Rechnung tragen, dass nichts bleibt, was sich später einmal verkaufen lässt. Die Drucke werden also vernichtet. »Cheap, quick and dirty. That’s how I like it.« So soll Frank reagiert haben, als ihm die Idee unterbreitet wurde.
Museum Folkwang: »Conflict Time Photography«, bis zum 5. Juli 2015; »Robert Frank, Books and Films, 1947–2014«, bis zum 16. August 2015, Tel.: 0201/8845 444