Ein riesiger Klumpen geschredderter Schrott. Andreas Siekmann hat das Ding voll böser Ironie just an einer ganz besonders schmucken Stelle in Münsters Innenstadt abgelegt – auf dem umzäunten Plätzchen vor Johann Conrad Schlauns barockem Erbdrostenhof. Beim Nähertreten erkennt man schnell, woraus sich das merkwürdige Konglomerat zusammensetzt: Rattenschädel und Pferdebein, die ausgerissenen Hörner einer Kuh und zerkleinerter Schweinebauch. Ganz oben lugt am langen Hals stolz ein Schwanenhaupt hervor.
Überreste eines Massakers? Nein, die Leichenteile stammen von Plastik-Vieh. Verarbeitet wurden jene fröhlichen Ramsch-Figuren, die zwischen Berlin und München Fußgängerzonen vermüllen. Wegwerfkunst der City-Marketing-Abteilungen, geformt, bunt bemalt und aufgestellt, um Gemeinden ein fröhliches und natürlich auch Konsum förderndes Outfit zu verleihen. Ratten für Hameln, Löwen für München, putzige »Buddy Bären« für Berlin. Dreizehn dieser Tierchen hat Siekmann sich nun geschnappt, durch die ebenfalls ausgestellte Containerpresse gejagt und zur monumentalen Kugel geformt. »Der öffentliche Raum im Zeitalter seiner Privatisierung«, so heißt es im erklärenden Untertitel des Werkes.
Siekmann leistet damit sicher einen der ausdrücklichsten, spektakulärsten, aber auch präzisesten und sarkastischsten Beiträge zu den »skulptur projekten münster«, die dieses Jahr zum vierten Mal über die Outdoor-Bühne der westfälischen Hauptstadt gehen. Wie gewohnt verzichtet die Veranstaltung auf ein festes Thema. Der Auftrag an die Künstler lautete auch nicht, ein Kunstwerk speziell für Münster zu schaffen. Vielmehr, so erklärt Kasper König, sollten sie »Münster als Beispiel für eine mittlere deutsche Großstadt nehmen und sich an dem Thema Kunst, Stadt, Öffentlichkeit abarbeiten«.
König, nebenbei Direktor des Kölner Museum Ludwig, ist seit der ersten Ausgabe 1977 als Kurator verantwortlich für die Skulpturenschau. Diesmal standen dem alten Kunstkempen zwei jüngere Kolleginnen zur Seite, beide Jahrgang 1966: Brigitte Franzen vom Westfälischen Landesmuseum in Münster und Carina Plath, die den ebenfalls vor Ort ansässigen Westfälischen Kunstverein leitet.
Was das Renommee und die öffentliche Akzeptanz angeht, so kann König für seine »skulptur projekte münster« nach 30 Jahren eine beeindruckende Entwicklung verbuchen. Die einst von den Münsteranern kritisch beäugte, ja heftig angefeindete Randveranstaltung hat sich als Toptermin auf dem Kunstkalender etabliert. Manch einer spricht von der kleinen »documenta-Schwester«. Und spätestens seit dem internationalen Riesenerfolg von 1997, als eine halbe Million Besucher kam, empfinden auch Münsters Bürger die »Projekte« als festen Teil ihrer kulturellen Identität.
Überall sehen sie sich umgeben von Skulptur-Relikten vergangener Ausgaben: Thomas Schüttes »Kirschensäule« ist am Harsewinkelplatz geblieben, ebenso jene sieben schrägen Steine, die Ulrich Rückriem 1977 an der Petrikirche aufgestellte hatte. Oder auch Claes Oldenburgs »Giant Pool Balls« auf den Wiesen am Aa-See. Die waren vor 30 Jahren nur knapp einem Attentat entgangen – einige hundert aufgebrachte Studenten scheiterten damals beim Versuch, die gigantischen Billardkugeln aus Beton im See zu versenken. Heute sind sie beliebtes Postkartenmotiv, eine Art Wahrzeichen der Stadt.
Klar, dass der Erfolgskurator sich freut. Allerdings nicht ohne Einschränkungen. Man müsse sich hüten vor allzu engen Umarmungen, um den Problemstellungen weiterhin gerecht werden zu können, warnt König. Dieser Gedanke schwingt zweifellos mit im Konzept des Kura-toren-Trios von 2007. So haben König, Plath und Franzen die Zahl der Teilnehmer drastisch reduziert. Beim letzten Mal waren es noch 70 Künstler, jetzt nur noch 36 (mit 34 Werken, da zweimal ein Künstlerpaar agiert). Man ließ viel Sperriges, Kompliziertes zu, auch Unscheinbares, Subtiles, und nimmt der Schau damit sicher etwas vom »Event«-Charakter der letzten Ausgabe.
Trotzdem erwartet Münster wieder um die 500.000 Kunst-Touristen, die auf günstig zu mietenden Fahrrädern und einem Plan in der Hand losgeschickt werden zur Kunstschnitzel-Jagd quer durch die Stadt und hinaus bis an den Aa-See, wo Rosemarie Trockel eine Eibenhecke pflanzte und Pawel Althamer seinen unscheinbaren Trampelpfad durch die Felder legte. Besser als das Zweirad wären dem Gast am Eröffnungstag auf seiner Skulpturen-Tour allerdings ein geliehener Regenschirm, Cape und Gummistiefel zupass gekommen.
Von der Velo-Station beim Dom holpert er nur ein kleines Stück übers Kopfsteinpflaster zu Isa Genzkens komischem und zugleich anrührenden Puppenmeeting auf dem Platz vor der gotischen Überwasserkirche. Die oft ramponierten und farbverschmierten Plastik-Protagonisten tragen Hut, Perücke oder Sonnenbrille. Einige haben im Schutze bunter Schirme auf Designerstühlen Platz genommen, andere müssen mit billigen Campingsesseln Vorlieb nehmen oder hängen armselig in der Gehhilfe.
Nach dem letzten Regenguss schauen die Puppen noch etwas mitgenommener aus als ohnehin schon. Wie ausgesetzt in eine Welt, die ihnen fremd scheint. Genzken – sie feiert diesen Sommer auch ihr Solo im deutschen Pavillon der Venedig-Biennale – überrascht in Münster mit einer ungewohnt ausdrücklichen gesellschaftspolitischen Stellungnahme. Ohne Zweifel dreht sich ihre Inszenierung auf dem Kirchplatz um Kinder, um ihre Stellung und Behandlung in der Gesellschaft. Ein etwas beliebiger Gegenstand, der am Diskurs der »skulptur projekte« allenfalls beiläufig teilhat.
Viele von Genzkens Kollegen haben ihre Aufgabe in Münster etwas ernster genommen, sind gewissenhafter mit den Fragestellungen rund um Kunst, Stadt und Öffentlichkeit umgegangen. Laut und recht knallig, wie Siekmann, der in diesem Jahr auch bei der »documenta« mitmacht. Oder ganz heimlich, still und leise wie Mark Wallinger. Eher zufällig entdeckt man das Werk des Briten, während einer vom erneuten Platzregen erzwungenen Pause in einem einigermaßen trockenen Hauseingang. Ein paar ebenfalls Schutz suchende Münsteraner weisen die Reporterin freundlich auf jene zarte Schnur hin, die sich da hoch oben über der Straße zwischen zwei Häuerwänden spannt. Alles in allem ist sie fünf Kilometer lang und umkreist die Innenstadt.
In Wallingers Fall bestand die Kunst zu einem Gutteil in Überzeugungsgeschick und technischem Einfallsreichtum. Denn es galt, die Bedenken von zig Hauseigentümern zu zerstreuen, die Dübellöcher in der Fassade und Horden von Kunstfreunden in ihren Vorgärten fürchteten. Auch waren auf dem Weg, den die Schnur zurücklegen musste, einige Hindernisse zu überwinden. Allzu dichtes Grün etwa durchdrang der Künstler mit Pfeil und Bogen.
Hier und an vielen anderen Stellen des Münster-Rundgangs wird deutlich, wie sehr sich der Skulpturbegriff geweitet hat – Prozesse und Performatives gewinnen an Gewicht, Musik und Film werden einbezogen. Ein wesentlicher Wandel zeichnet sich ebenso ab mit Blick auf den »öffentlichen Raum«, der mehr und mehr in private Hände zu geraten scheint. Wem gehört eigentlich die Stadt? So ließe sich eine sicherlich zentrale Frage der »skulptur projekte münster 07« formulieren.
Eine gelassen ironische, trotzdem sehr stringente Antwort darauf gibt Hans Peter Feldmann. Ganz zweckorientiert tobte der Vertreter einer demokratischen Konzeptkunst seinen gestalterischen Elan an der öffentlichen Bedürfnisanstalt unter dem Domplatz aus. Mit freudigen Überraschungen empfängt er den in die Tiefe steigenden, Übles erwartenden Benutzer: Bunte Kronleuchter, moderne Badkeramik, Trennwände in frischem Hellgrün, große Blumenbilder an den Wänden, dazu säuseln klassische Klänge aus dem Lautsprecher. Während die um sich greifende Privatisierung der öffentlichen Örtchen meist erhebliche Eintrittsgelder zur Folge hat, gibt es den Toilettenluxus in Münster selbstverständlich gratis.
Die nur alle zehn Jahre wiederkehrende Skulpturenschau will und kann solche künstlerischen Entwicklungen Rechnung tragen. Nicht umsonst wird sie von den Kuratoren immer wieder als »Langzeitprojekt« apostrophiert. Und in diesem retrospektiven Moment liegt auch eine besondere Eigenheit, ein spezieller Reiz des Ganzen. Der Rekurs auf Vergangenes findet sich nicht nur in den vielen stehengeblieben Stücken der Vorgängerschauen, er hat auch unter den aktuellen Beiträgen der »skulptur projekte« einen Platz. Zum Beispiel im Werk von Dominique Gonzalez-Foerster, die 37 alte Skulpturen von Kollegen en miniature nachgebaut und in der Senke am Kanonengraben zur Revival-Ausstellung gruppiert hat.
Ein ganz anderer Bezug zurück ergibt sich bei Bruce Nauman, der 2007 nun endlich seine »Square Depression« verwirklichen konnte, eine Arbeit, die er bereits vor 30 Jahren für Münster geplant hatte. Um die zwei Meter tief bohrt sich nun eine umgedrehte Pyramide neben dem Naturwissenschaftlichen Zentrum in den Boden.
Während etwa die »documenta« immer wieder von Null anfangen müsse, gehe es in Münster darum, Veränderung sichtbar zu machen, so König. Dabei sei der Wandel enorm. Ein Faxgerät habe es 1977 nicht gegeben, geschweige denn das Internet. In den laufenden Projekten spielen diese relativ neuen Medien allerdings nur eine Nebenrolle.
Silke Wagner macht sie sich zunutze in ihrem komplexen Denkmal für den Münsteraner Hitler-Gegner Paul Wulf (1921 bis 1999). Zu Lebzeiten sah man den schmächtigen Mann durch Münsters Straßen ziehen. Unter dem Arm trug er eine dicke schwarze Aktentasche, vollgestopft mit Papieren und Zeitungsausschnitten seiner antifaschistischen Dokumentation. Als sichtbares Zeichen im Stadtbild setzte die Künstlerin Wulfs plastisches Abbild nun vor das Stadthaus und beklebte es, gleich einer Litfaßsäule, mit Dokumenten aus dessen gesammelten Akten. Wichtiger Teil des Werkes ist die Website dazu. Dort wird Wulfs eigens digitalisiertes Archiv einem breiten Publikum zugänglich gemacht (www.uwz-archiv.de).
Inzwischen hat sich der Himmel wieder bedrohlich verfinstert, deshalb wählt man den Bus für die Fahrt zu zwei entlegenen Schrebergartenkolonien, die Jeremy Deller zum Schauplatz seines Mitmach-Projektes wählte. Diesmal richtet sich der künstlerische Blick nicht zurück, sondern in die Zukunft: Deller verteilte dicke Lederkladden, die den Kleingärtnern während der kommenden zehn Jahre als Tagebücher dienen sollen. Dazu hält er künstlerisch gestaltete Tütchen mit Saatgut für chinesische Taschentuchbäume bereit. Erst säen, dann geduldig warten, so lautet die Empfehlung. Bis zu den »skulptur projekten« im Jahr 2017. Denn so lange werde es dauern, bis das exotische Gewächs in voller Blüte stehe.
Zehn Jahre – angesichts des irrsinnig beschleunigten Geschehens auf dem Kunstparkett, dem immer schnelleren Wechsel der Stars und Trends scheint es beinahe wie eine Ewigkeit. So hatte sich denn auch die Stadt Münster nach dem großen Erfolg von 1997 gewünscht, die Zeit zwischen den »skulptur projekten« zu halbieren. Doch König winkte glücklicherweise ab. Der Macher bewahrt Vernunft und Ruhe. Fünf Jahre, das sei einfach zu wenig für den Gegenstand, den es in Münster zu untersuchen gelte.
»skulptur projekte münster 07«, bis 30. September 2007. www.skulptur-projekte.de