INTERVIEW: ANDREAS WILINK
Die dritte und letzte Saison von Willy Deckers Intendanz erreicht den »Urmoment« der Ankunft. Unser Gespräch – im zehnten Stock mit Blick auf ein gewitterverhangenes Düsseldorf – bekommt so gewissermaßen gleich die richtige Dimension. Denn eine Steigerung ist thematisch kaum denkbar: Richard Wagners Musikdrama »Tristan und Isolde«, mit dessen Premiere Decker das Festival eröffnet. Er ist bereits ein Infizierter, auch weil er 2007 den mittelalterlichen Minne-Stoff für die Ruhrtriennale schon im Laborversuch inszeniert hat: in Gestalt von Frank Martins »Le vin herbé«. Decker erzählt zunächst von Besuchen in Japan und Bhutan, von stupenden Erfahrungen und Wahrnehmungen, kulturellen, spirituellen und sozialen Differenzen zwischen europäischem und asiatischem Kulturkreis, die er auch festmacht an der geringer ausgeprägten Bedeutung des individuellen Ichs im Buddhismus. Womit wir bereits den »Welt-Athem« spüren, in den die Liebende Isolde sich aushaucht.
K.WEST: Es herrscht eine seltsame Antinomie von Ich-Gewinnung und Ich-Verlust im »Tristan«. In einem Gedicht Friedrich Rückerts heißt es: »Denn wo die Lieb erwachet, stirbt Das Ich, der dunkele Despot.« Das beschreibt die Spannung, in der das Paar sich befindet.
DECKER: Wenn die beiden sich im zweiten Akt begegnen, gehen sie durch einen transformatorischen Prozess, in dem sich das Ich, die Persönlichkeit, der Umriss, die Vergangenheit, selbst das Geschlecht auflösen. Sie gehen immer weiter, bis sie in einen Raum vorstoßen, der jede Konvention übersteigt. »Gib Vergessen, dass ich lebe«, sagt Tristan. Die lassen alles hinter sich. Das ist tief verwandt mit dem, was in der buddhistischen Meditation passiert. Im »Tristan« wird für mich hörbar, was ich empfinde, wenn ich über Buddhismus nachdenke.
K.WEST: Ist darin auch das Ekstatische enthalten, das sich extrem stark in der Musik, aber auch in der Sprache, dem Liebesdialog, und als Gefühlsvolumen ausdrückt?
DECKER: Absolut. Das Ekstatische ist Teil der meditativen Praxis, wenn sie in Räume vordringt, von denen ich vorhin sprach. Ein Gefühl der Grenzenlosigkeit, das einem fast den Atem benimmt. Ekstase hat etwas mit Sich-Ausbreiten zu tun, in der Zen-Meditation und im tibetischen Buddhismus erst recht. Bis hin zur sexuellen Dimensionierung. Auch das Körperliche und sinnlich Sexuelle spielt eine große Rolle, was bei uns unter einem missbrauchten Begriff wie Tantra firmiert. Dabei ist das eine hochkomplexe Praxis des tibetischen Buddhismus, wobei eben die Ekstase benutzt wird für einen Vorgang persönlicher Transformation. Wie die Explosion des Panzers, in dem ein Mensch sich befunden hat.
K.WEST: Und beim Sexuellen innerhalb der Meditation braucht man auch die andere Person, oder ist der Meditierende sich selbst genug?
DECKER: Der Begriff des Eros ist naturgemäß riesig weit. Es gibt die Praxis der Partner-Meditation, bei der tatsächlich ein sexueller Akt zugrunde liegt. Aber der ist extrem kontrolliert, nein, das ist das falsche Wort, besser: eingebettet in einen geistigen Vorgang. Der Buddhismus benutzt alle sinnlichen Möglichkeiten, inklusive Alkohol, um solche befreienden Prozesse in Gang zu bringen.
K.WEST: Tränke also, Zaubertränke.
DECKER: Ein Buddhist würde sagen, es ist gar nicht so wichtig, was ich trinke, sondern mit welcher Haltung ich es trinke.
K.WEST: Frank Martins Oratorium »Le vin herbé« folgt dem mittelalterlichen Epos, wo allein der Zaubertrank die Liebe Tristans und Isoldes weckt. Wagner deutet das um. Bei ihm ist es der vermeintliche Todestrank, der das Bekenntnis zur längst schlummernden Liebe befördert. Kein fauler Zauber, sondern innerstes Gefühl, freigesetzt durch die drohende Wahrheit des Todes.
DECKER: Das Entscheidende am Trank, den Brangäne reicht, ist nicht, was er enthält, sondern was die beiden glauben, dass darin ist. Thomas Mann hat gesagt, es könnte alles sein, Wasser, Wein, Bier. Die beiden glauben, in den nächsten Minuten zu sterben. Es lohnt also nicht mehr, die Sperren aufrecht zu halten. Tristan mit seinem Ehrgefühl –
K.WEST: »Ruhm und Ehr‘, / Macht und Gewinn«, heißt es …
DECKER: – und Isolde mit ihrem verletzten Rachegedanken. Was sie nur vorgeschoben haben, um sich nicht nahe zu kommen. Der Todesgedanke befreit. Dadurch strömt massiv ineinander, was zuvor komplett zurückgehalten wird.
K.WEST: Wenn Sie Thomas Mann zitieren, tue ich es auch: Er spricht mit Blick auf »Tristan« von »Sympathie mit dem Tode«. Lars von Triers Weltuntergangs-Film »Melancholia« arbeitet musikalisch ausgiebig mit dem »Tristan«-Thema. Sehen Sie im »Tristan« etwa auch Ende und Untergang? Ich vermute, eher nicht.
DECKER: Stimmt. Sterben und Tod sind ebenfalls sehr komplexe Begriffe. Ich glaube nicht, dass es um den physischen Tod geht, Isoldes Tod ist auch kein solcher – Tristans schon eher, aber auch da zerfließt es. Es ist vielmehr Sterben in etwas Neues hinein. Ein Sterben, von dem Goethe spricht als »Stirb und Werde«, Dauer im Wandel«. Tod auch als Ausblenden der Vergangenheit, als Vergessen. Von diesem radikalen Neuanfang sind beide tief durchtränkt. Die Nähe zum Tod als Nähe zur Dunkelheit, zur Nacht, zur Überwindung all dessen, was wir uns einbilden.
K.WEST: Das sind erzromantische Begriffe. Gibt es etwas Vergleichbares, auch von seiner Universalität her, im buddhistischen Denken? Versteht man dort Romantik?
DECKER: Mein Zen-Meister versteht sie. Ich würde sagen, ein Asiate oder Buddhist erlebt Dunkelheit und Nacht anders. Bei uns ist das mit Grauen, Angst, Alb besetzt. Dort ist es eher umgekehrt – wie vieles umgekehrt ist. Wenn ich mir in Japan Teeschalen ansehe, ist die wertvollste die, die ich als Westler für hässlich halte. Nichts an ihr ist ebenmäßig. Wäre sie das, hätte sie keinen Wert. Je unebener, desto schöner. Und so eben sucht auch der Zen-Praktizierende das Dunkel. Sucht die Abwesenheit der äußeren Reize, die als Illusion erkannt sind. Mein Verstand schafft die Begriffe um mich herum und blendet dabei deren Komplexität aus.
K.WEST: Wo liegt der Raum für Tristan und Isolde? Sollte man, wie Marthaler, ein Zimmer mit Tapete einrichten? Psychologischen Realismus wie Patrice Chéreau? Ein philosophisches Gebäude wie Heiner Müller? Oder ins Astronomische abheben wie Barrie Kosky in Essen?
DECKER: Nein, ein Sternenhimmel ist es auch nicht. Diesem Nicht-Ort der beiden konkreten Raum zuzuweisen, ist eigentlich unmöglich. Was man tun kann, ist eine theatralische Umgebung zu installieren, die eine geistige Situation impliziert, die man dann in Bewegung bringt. Man muss in eine gewisse räumliche Abstraktion hineinzielen. Was überhaupt nicht geht, ist reduzieren im Sinne von verengen auf was auch immer. Einen realistischen Ort zuzuweisen, ist eine Niederlage, wenn man das Stück macht. Es zielt ins Offene. Man muss ästhetische Mittel, ein Bild finden für einen radikalen Transformationsvorgang. Klingt schrecklich. Jedes Wort ist falsch, egal, was man sagt. Das ist ein Grundproblem des Stückes. Ich bin mir nicht sicher, ob man dem entkommt, es sei denn, man macht die Augen zu. Ernst Bloch hat gesagt: Es schreiten zwei Menschen ins Dunkel. Und sonst begibt sich nichts.
K.WEST: Was war Ihre erste Begegnung mit dem »Tristan«?
DECKER: Die ist relativ spät in meinem Leben passiert. Anfang der 90er Jahre, als ich das Stück in Leipzig inszenierte, bin ich ihm erst wirklich begegnet. Es hat mich umso mehr erschüttert. Ich hatte vorher keine Affinität dazu. Komischerweise wohl zu »Parsifal«.
K.WEST: Sie waren vermutlich noch auf einem anderen Weg…
DECKER: Ja. Das war ich. Wenn ich ehrlich bin, ist der Unterschied zwischen damals und jetzt und dass ich dem Werk nun anders gegenüberstehe, die Tatsache, dass ich praktizierender Buddhist wurde. Nur deswegen mache ich den »Tristan« erneut. Das gilt für sehr wenige Stücke. Es nur zu wiederholen, wäre sinnlos. Aber hier ist es wichtig für mich.
K.WEST: Wagner hat in Venedig, in Santa Maria Gloriosa dei Frari, die »Assunta« von Tizian gesehen. Cosima schreibt in ihrem Tagebuch, Wagner leugne, »daß die Assunta die Mutter Gottes sei, es sei Isolde in der Liebes-Verklärung«. Isolde als mystisches Wesen, jenseits christlicher Jenseits-Idealisierung. Kann man, muss man den »Tristan« ohne Religion verstehen?
DECKER: Ich würde definitiv sagen, vor allem ohne Religion. Das sollte man beiseite lassen. Ich verstehe in diesem Sinn Buddhismus ausdrücklich nicht als Religion, sondern als Philosophie des Lebens. Wagners Frauenbild war ohnehin sehr speziell. Das muss man mit Vorsicht genießen. Dazu kommt, dass seine optischen Vorstellungen oft sehr naiv bis abstrus sind. Nur seine Musik spricht eine andere Sprache. Als Regisseur sollte man seine Musik verwirklichen und nicht so sehr seine visuellen Vorstellungen. Die Essenz des »Tristan« ist vor allem hörbar – und jeder Schritt ins Sichtbare bleibt immer Versuch, vielleicht sogar Utopie.
»Tristan und Isolde«; Jahrhunderthalle, Bochum; 27. und 31. Aug. sowie 3., 9., 13., 17. und 20. Sept. 2011; vorher jeweils Einführungen ins Werk.