// Johanna Adorján ist an diesem Tag ein bisschen verschnupft. In Berlin liegt Schnee, seit ein paar Tagen ist es unangenehm kalt und nass. In der hintersten Ecke der Ostfiliale des »Café Einstein« hat sie reservieren lassen. Man kennt die Feuilletonistin der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung hier. Der Radio-Reporter wird dann später in der Redaktion um die Ecke empfangen. Dort ist es leiser. Wobei es so richtig laut in der Edel-Kantine des Berliner Medienbetriebs nicht ist. Eher wundert es den aus der Provinz Angereisten, wer alles an diesem Mittag im Einstein nicht sitzt.
Am 15. März wird Johanna Adorján aus ihrem Debüt »Eine exklusive Liebe« bei der lit.Cologne lesen. Aus einem sehr persönlichen, anrührenden Buch über den Selbstmord ihrer Großeltern väterlicherseits, die als ungarische Juden den Holocaust überlebt hatten und 1956 von Budapest nach Dänemark geflohen waren. Gesprochen wurde darüber in der Familie Adorján nie. Die Enkelin hat dieses Schweigen gebrochen und verfolgt in »Eine exklusive Liebe« die Spuren eines ungewöhnlichen, exzentrischen Paares. Sie reist nach Budapest, Paris oder New York, um von Freundinnen und Verwandten der Großmutter mehr über die Geschichte einer außergewöhnlichen Verbindung zu erfahren, und sie beschreibt minutiös jenen 13. Oktober 1991, an dem ein schwer kranker Mann und seine gesunde Frau abends zu Bett gehen, um Hand in Hand zu sterben.
Über diese Arbeit hat Johanna Adorján, 1971 in Stockholm als Tochter eines in Ungarn geborenen Dänen und einer Deutschen geboren, nicht nur die von ihr bewunderte Großmutter neu kennen gelernt; sie hat sich auch mit der eigenen Ver- und Entwurzelung auseinandergesetzt, mit der als Traditionsbruch vererbten Lücke: »Was heißt es, alles Mögliche nur halb zu sein?« //
K.WEST: Am 13. Oktober 1991, am Abend, als sich Ihre Großeltern das Leben genommen haben, saßen Sie zufällig mit Freunden zusammen und sprachen von Ihrer Befürchtung, Ihre Großeltern könnten eben dies tun. Damals fühlten Sie sich im nachhinein unwohl, überhaupt über dieses private Thema gesprochen zu haben. Warum suchen Sie mit dieser Geschichte nun die Öffentlichkeit?
ADORJÁN: Zwischen diesem Abend und der Zeit, als ich das Buch geschrieben habe, liegen 16 Jahre. Die Geschichte hat sehr lange in mir gearbeitet. Sie ist über diese Zeit immer mehr zu meiner Geschichte geworden ist.
K.WEST: Sie zeichnen das Bild eines eleganten, auf faszinierende Weise aus der Zeit gefallenen Paares, das aussieht, als hätte es eben den Oldtimer um die Ecke geparkt. Ist die Intensität dieser »exklusiven Liebe« bis in den Tod hinein heute unzeitgemäß?
ADORJÁN: Es gibt doch immer mal wieder Paare, die so lange zusammen sind. Genauso wie es Scheidungen in der Generation meiner Großeltern gab. Unzeitgemäß an ihrer Liebe war vielleicht, dass sie sich gesiezt haben, jahrzehntelang und bis zum Tod.
K.WEST: »Ihre große Liebe ist die Antwort« stand damals in der Todesanzeige. War der Verdacht, dass sich Ihre Großmutter nicht nur aus großer Liebe das Leben genommen hat, Ausgangspunkt des Buches?
ADORJÁN: Zunächst hat mich immer interessiert, wie der letzte Tag meiner Großeltern ausgesehen hat. Wie fühlt es sich an, wenn man weiß, dass man sich am Abend umbringt? In was für einer Stimmung ist man da? Ich wollte mir das so genau wie möglich vorstellen können. Also habe ich den letzten Tag ihres Lebens als Möglichkeit entworfen, und ich habe eine Antwort gefunden, die mich ruhig sein lässt.
K.WEST: Dabei sind Sie darauf gestoßen, dass Ihre Großmutter vielleicht gar nicht so souverän und stark gewesen ist, wie Sie sie erlebt haben?
ADORJÁN: Ich kannte sie ja nur aus der Enkelpers-pektive: als Großmutter. Je mehr ich von ihren Freundinnen über ihren Charakter erfahren habe, desto mehr habe ich sie als Frau kennen gelernt, als eine vermutlich sehr unsichere Frau. Vielleicht ist das ja auch die Antwort darauf, warum sie sich zusammen mit meinem Großvater umgebracht hat. Aber das kann ich nur vermuten. Eine große Portion Angst spielte wohl mit hinein, Angst vor dem Älterwerden, vor der Schwäche und vor dem Alleinsein.
K.WEST: Vor anderthalb Jahren hat sich der Sozialphilosoph André Gorz gemeinsam mit seiner 83-jährigen Frau Dorine das Leben genommen. Er hat vorher die Geschichte ihrer Liebe als Brief geschrieben, darin heißt es: »Gemeinsam mussten wir uns, einer durch den anderen, unseren Platz in der Welt schaffen, der uns ursprünglich abgesprochen war. Doch dazu musste unsere Liebe auch ein Pakt fürs Leben sein«. Machen reale Ausgrenzung und das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, eine Liebe exklusiv und stark?
ADORJÁN: Ich kann das nur vermuten. Hinter all dem steht für mich noch immer ein großes Fragezeichen. Das Schicksal hat meine Großeltern offensichtlich zusammengeschweißt, so dass es wohl undenkbar war, dass der Eine ohne den Anderen hätte weiter leben können. Ich bewundere Lieben, die so lange halten. Abgesehen davon, dass es meine Großeltern waren, mochte ich es sehr, über ein altes Paar zu schreiben. Diese festgefahrenen Rollen und dieser Tonfall, der im Alltag häufig überhaupt nicht liebevoll ist, sondern eher gereizt.
K.WEST: Sie erzählen nicht nur die Geschichte einer exklusiven Liebe, sondern auch die des Schweigens über die KZ-Internierung Ihres Großvaters. Man könnte vermuten, der Selbstmord sei ohne diese Internierung nicht zu verstehen.
ADORJÁN: Ich kann mir vorstellen, dass es eine Beziehung festigt, wenn man in Situationen gerät, in denen man davon ausgeht, seinen Mann nie wieder zu sehen. Vielleicht hat meine Großmutter meinem Großvater das Versprechen abgenommen, zusammen zu sterben. Doch bitte: das ist eine Mutmaßung.
K.WEST: Sie beschreiben Ihre Großmutter immer wieder als schöne, elegante Frau. Als eine Frau, die Sie bewundert hätten. War diese Schönheit ein Grund für Ihre Faszination?
ADORJÁN: Ich war immer sehr stolz auf eine Großmutter, die so extravagant angezogen war, Kette rauchte und eine so beeindruckend tiefe Stimme hatte. Sie war, verglichen mit anderen, einfach eine sehr untypische Großmutter.
K.WEST: Schließt diese Bewunderung auch die Entscheidung mit ein, sich gemeinsam mit dem sterbenskranken Mann das Leben zu nehmen?
ADORJÁN: Ich bin mir nicht sicher, ob ich diese Entscheidung bewundere. Doch. Ich bewundere meine Großmutter dafür, eine solche Entscheidung so konsequent durchgeführt zu haben. Es mag komisch klingen, aber ich habe sehr großen Respekt vor dieser Konsequenz. Ich vermute, dass mein Großvater sie darum gebeten hat, es nicht zu machen. Sie wollte es so und basta.
K.WEST: Glauben Sie, dass dieser Pakt auch umgekehrt funktioniert hätte: Mit einer schwer kranken Großmutter und einem vitalen Großvater?
ADORJÁN: Ich kann mir meine Großmutter überhaupt nicht sterbenskrank vorstellen.
K.WEST: Warum nicht?
ADORJÁN: Sie hätte sich vorher umgebracht. Hat sie ja auch. Meine Großmutter hat sich keine Schwäche gestattet.
K.WEST: Aber die Entscheidung Ihrer Großmutter ist Ihnen nachvollziehbar?
ADORJÁN: Ja. Wenn jemand beschließt, nicht mehr leben zu wollen, ist es nicht an mir, das zu beurteilen. Es ist ihr Leben, nicht meines.
K.WEST: Hat der Sohn dieser Großeltern, Ihr Vater, das Buch schon gelesen?
ADORJÁN: Mein Vater war der erste Leser. Wenn er Einwände gehabt hätte, hätte ich es nicht so veröffentlicht.
K.WEST: Sie unterstellen Ihren Großeltern eine Portion Aggression, die dazu gehöre, vor den eigenen Kindern so zu tun, als sei man vollkommen allein auf der Welt. Exklusiv konnte diese Liebe also nur sein, weil sie andere ausschloss, auch die eigenen Kinder?
ADORJÁN: Ihre Liebe und vor allem ihr Tod hatte etwas Ausschließendes. Das gilt auch für die Familie. Wobei ich das nicht so gespürt habe, denn die Generation, die zwischen mir und meinen Großeltern liegt, hat das abgefedert.
K.WEST: Ruhig ist der letzte Tag Ihrer Großeltern in Ihrem Buch. Beide gehen sehr gelassen und souverän mit dem bevorstehenden Selbstmord um. Ihre Großmutter räumt auf, bestellt das Haus, wozu auch frische Blumen und Geschenke für die Familie gehören. Am Ende ist alles erleuchtet, es herrscht eine feierliche Stimmung. Konnten Sie sich den letzten Tag nicht anders als so vorstellen?
ADORJÁN: Es gibt ja die Polizeiakten, in denen
drinsteht, dass alles aufgeräumt und hell erleuchtet war. Ich habe mir das nicht ausgedacht; und wenn ich mich umbringen wollte, würde ich es wahrscheinlich auch in hellen Räumen machen wollen.
K.WEST: Was bedeutet es für Sie, die Enkeltochter eines Mannes zu sein, der im KZ Mauthausen interniert war?
ADORJÁN: Das ist schwierig zu beantworten, denn ich weiß ja nicht, wie es anders wäre. Was bedeutet es mir? Es ist einfach so.
K.WEST: Ihre Großeltern haben nie über die Zeit der Internierung ihres Großvaters im KZ Mauthausen gesprochen. Doch meinten Sie und Ihre Familie zu wissen, dass er dort gelernt haben muss, im Gehen zu schlafen, sonst wäre er erschossen worden. Im Laufe Ihrer Recherche über die Fußmärsche hat sich diese Geschichte dann bestätigt. Sie schreiben: »Es starben Tausende auf diesen Märschen. Ich bin natürlich erschüttert, als ich davon lese, aber ich bin auch erleichtert. Es stimmt also, ich bin diese Enkelin.«
ADORJÁN: Wenn es etwas für mich etwas bedeutet hat, dass mein Großvater im KZ war, dann in ganz komischen Zusammenhängen. Beim Joggen dachte ich zum Beispiel immer: Ich kann jetzt nicht aufgeben, schließlich bin ich die Enkeltochter von jemandem, den man erschossen hätte, wenn er vor Erschöpfung zusammengebrochen wäre. Es hat mir bei etwas Banalem wie dem Joggen als Motivation gedient. In meinem Buch geht es auch um die Mischung aus großer Geschichte und banalem Leben.
K.WEST: Sie werfen Ihrem Großvater vor, dass er seine Kinder nicht in der jüdischen Tradition hat aufwachsen lassen, dass er damit auch Sie, die Enkelin, um einen Teil Ihrer Identität gebracht hätte:»Mir fehlt ein Stück von mir. Ich vermisse etwas und weiß nicht einmal genau, was.« Wie geht das?
ADORJÁN: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich mit jüdischen Menschen sehr gut klar komme, als wäre da irgendeine seltsame Art Verwandtschaft. Aber ich kann das nicht beschreiben. Es ist einfach ein Gefühl.
K.WEST: Was macht Sie so sicher, dass Sie das, was Sie vermissen, in Ihrer Familiengeschichte finden?
ADORJÁN: Die Arbeit an diesem Buch hat mich ruhiger gemacht. Früher dachte ich immer, ich bin gar nichts richtig. Jetzt denke ich, ich bin alles: ich bin jüdisch und ich bin nicht-jüdisch, ich bin deutsch und ich bin ungarisch. Und dänisch. Und habe Großeltern, auf die ich sehr stolz sein kann.
Johanna Adorján, Eine exklusive Liebe, Luchterhand Literaturverlag, 2009, 192 Seiten, 17,95 Euro