TEXT UND INTERVIEW: ANDREJ KLAHN
Im Juli 2007 hat der Politologe Claus Leggewie die Nachfolge von Jörn Rüsen als Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen (KWI) angetreten, das seit Anfang des Jahres als eigenständiges Forschungsinstitut aus dem Verbund des Wissenschaftszentrums herausgelöst worden und in der Trägerschaft der drei Universitäten Bochum, Dortmund und Duisburg-Essen übergegangen ist. Während die Neuorganisation des KWI auch ein Signal für eine verstärkte Vernetzung der Ruhrgebiets-Universitäten sein soll, ist die Berufung Leggewies wohl ein deutliches Zeichen dafür, dass man gewillt ist, mehr noch als zuvor das zu machen, was sein Vorgänger Jörn Rüsen gelegentlich »Fenster weit auf« nannte. Damit ist nicht ein gegen welchen Muff auch immer gerichtetes Lüftungsvorhaben bezeichnet, sondern das Ziel, der exzellenten Forschung am Institut eine breitere Öffentlichkeit zu verschaffen. Leggewie, Gründungsdirektor des Gießener Zentrums für Medien und Interaktivität, gelingt es wie nur wenigen seiner Zunft, gewonnene Erkenntnisse für ein Publikum jenseits der Universitäten aufzubereiten, und scheut dabei nicht das Risiko aktueller Zeitdiagnosen. Den Medien ist er ein gern befragter Gesprächpartner und Kommentator. In Wanne-Eickel geboren, hat Leggewie in Köln und Paris Sozialwissenschaften und Geschichte studiert, wurde 1989 als Professor für Politikwissenschaften an die Justus-Liebig-Universität Gießen berufen, war von 1995 bis 1997 erster Inhaber des Max-Weber-Lehrstuhls an der New York University und 2000/2001 Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin. Schwerpunkte seiner Forschung sind unter anderem die europäische Erinnerungskultur, Demokratie und Demokratisierung in nichtwestlichen Gesellschaften, politische und wissenschaftliche Kommunikation in digitalen Medien sowie die kulturelle Globalisierung.
K.WEST: Seitens der Universität Duisburg-Essen hat man Ihnen drei Wünsche für Ihre Zeit als Direktor des KWI mitgegeben: Themenscouting, anwendungsorientierte, praxisnahe Forschung und die Erzeugung von Aufmerksamkeit bei der außeruniversitären Öffentlichkeit. Deckt sich dieses Standortfitness-Programm mit Ihrer Agenda für das KWI?
LEGGEWIE: All das möchte ich gern versuchen. Ich stehe für eine wissenschaftliche Arbeit, die sich auf die Praxis bezieht und nach Anwendung sucht – wohlgemerkt: nicht danach giert. Ich bin aber der Überzeugung, dass Wissenschaft in der Öffentlichkeit stattfinden muss, nicht im Elfenbeinturm. Was nicht heißen soll, dass das, was wir machen wollen, der Öffentlichkeit immer gefällt.
K.WEST: Muss das KWI, um sich auf dem Aufmerksamkeitsmarkt zu behaupten, nur lauter schreien, oder bedarf es neben anderen Darstellungsformen auch neuer Themen?
LEGGEWIE: Das KWI hat ein großes Renommee und verdient mehr Aufmerksamkeit, auch über die Region hinaus.
K.WEST: Durch gezieltere Öffentlichkeitsarbeit?
LEGGEWIE: Nehmen wir die Auseinandersetzung um den Bau der Moschee in Essen-Frohnhausen als Beispiel. Über derartige interreligiöse Konflikte können wir uns intern hier verständigen, wir können aber auch öffentlich Stellung nehmen. Deshalb hat das KWI Hilfe angeboten.
K.WEST: Um was genau zu tun?
LEGGEWIE: Jeder Konflikt ist rationalisierbar, und die Wissenschaft kann als neutraler Beobachter dazu beitragen, dass die Konfliktparteien sich wechselseitig in die Perspektive des jeweils anderen hineinversetzen. Menschen, die sich in Köln oder in Essen gegen den Bau einer Moschee in ihrer Nachbarschaft wehren, werden leichtsinnig als Blockierer abgetan. In Wirklichkeit könnten die Betroffenen zur Avantgarde der Integration zählen. Die Irritation ihres Lebensumfeldes ist ja real, mehr Verkehr …
K.WEST: … das bekannte Parkplatzproblem …
LEGGEWIE: … aber auch der Auftritt verschleierter Personen. Es muss erlaubt sein, davon irritiert zu sein, ohne sofort abgestempelt zu werden, vor allem nicht von den »Not in my back yard«-Leuten, die weit weg von solchen Problemen wohnen. Letztendlich sind wir doch alle NIMBYs, die wir doch gerne Moscheen, Müllverbrennungsanlagen und ähnliche uns irritierende Einrichtungen dort dulden, wo wir nicht betroffen sind. Das Bekenntnis »Ich bin dafür, dass Muslime in Deutschland Moscheen bauen« ist nun wirklich kein besonderes Zeichen von Toleranz. Tolerant bin ich erst, wenn ich eine Moschee in meine Nachbarschaft baue, obwohl ich eigentlich dagegen war – das ist der Lackmustest. Menschen, die diese Integrationsprobleme austragen, müssen eine symbolische Prämie bekommen.
K.WEST: Wunden heilen aber nicht schneller, nur weil der Arzt ein buntes Pflaster drauf klebt und sagt: Sie sind aber ganz schön tapfer.
LEGGEWIE: Aber auch symbolische Prämien erleichtern den Umgang mit Irritationen. Sozialer Wandel geht immer mit Kosten einher, die niemand vor der eigenen Haustür begleichen möchte. Doch dann fallen sie andernorts an. Aus unteilbaren müssen teilbare Konflikte werden. Sie sehen: wir setzen den Akzent nicht immer auf Integrationsschwierigkeiten, sondern arbeiten mit an ihrem möglichen Gelingen. Und dass Einwanderung gelingt, ist für die Ruhrmetropole entscheidend: Sie braucht qualifizierte Arbeitskraft von draußen.
K.WEST: Zu welchen Themen kann sich die Kulturwissenschaft aktuell noch unentbehrlich machen?
LEGGEWIE: Wir müssen uns an die Frage herantrauen, welche kulturellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen die Bewältigung des Klimawandels hat. Mittlerweile besteht ein Konsens darüber, dass der Mensch für den Klimawandel verantwortlich ist, und da setzt eine Art politische Technologie ein: Politik macht Gesetze, Unternehmen entwickeln neue Techniken. All das könnte aber zu kurz greifen, wenn die Widerständigkeit sozialen und kulturellen Verhaltens außer Acht gelassen wird. Das große Manko der gegenwärtigen Klimaforschung ist die Diskrepanz zwischen der Evidenz des Wandels einerseits und andererseits der Bereitschaft, Erkenntnisse in entsprechende Handlungen umzusetzen. Dazu benötigt die Klima- und Umweltforschung dringend kultur- und sozialwissenschaftliche Kompetenz; nicht, um der politischen Technologie Akzeptanz zu beschaffen, sondern um dabei zu helfen, etwas Entscheidendes zu befördern: Selbstaufklärung in individuellen Lernprozessen mit kollektiven Folgen.
K.WEST: Die Wirtschaft entwickelt also schadstoffarme Autos und die Kulturwissenschaft erklärt uns, warum wir trotzdem lieber schnell als ökologisch verträglich fahren?
LEGGEWIE: Ein solches Verhalten zu skandalisieren bringt uns nicht weiter. Der Klimawandel ist ja eigenartig: Anders als bei Katastrophen wie einem Super-Gau oder dem jüngst im Dokudrama inszenierten Meteoriteneinschlag haben wir es mit einer Dauerirritation unserer auf Normalität gepolten Wahrnehmung zu tun. Ein simples Beispiel: Meine Joggingstrecke ist in diesem Sommer viermal überschwemmt gewesen, was früher nie der Fall war. Vielleicht ist es Zufall, doch veranlasst es mich, darüber nachzudenken, ob hier eventuell was aus dem Lot geraten sein könnte. In den USA sterben gerade massenhaft Bienen, was mit Klimawandel vermutlich nichts zu tun hat. Dennoch machen solche Phänomene nervös. Wir sind alarmiert und vergessen schnell wieder. Diese merkwürdige Gemengelage muss man präzise und geduldig beobachten und nach allen Regeln unserer Kunst analysieren, um Einsichten zu gewinnen, wie sich die Irritation auf die Fähigkeit auswirkt, das eigene Verhalten zu ändern. Das KWI soll eine international bekannte Adresse werden, wo man dazu Auskunft bekommt, und es ist auch nicht ohne Belang, dass diese Adresse im Ruhrrevier ist, das noch gar nicht weiß, dass es eine Zukunft als ökologische Modellregion hat. Wenn nicht hier, wo sonst?
K.WEST: Sie schreiben in Ihrem im letzten Monat erschienenen Buch »Die akademische Hintertreppe«: »Nützlich zu sein, ist ein wissenschaftsfremder, von politischen Kalkülen geleiteter Imperativ.« Wo liegt die Grenze zwischen Nützlichkeit und Anwendungsorientierung?
LEGGEWIE: Die jüngst gekürten deutschen Nobelpreisträger haben reine Grundlagenforschung an den Universitäten betrieben. Das heißt: Sie haben unter den Bedingungen der klassischen deutschen Universität ihre Ideen entwickelt und sind erst dann an außeruniversitäre Forschungseinrichtungen gegangen. Im Laufe ihres Forschungsprozesses fiel irgendwann auch ein Patent ab, wirtschaftlicher Nutzen stellte sich ein. Das ist eine Form von Nützlichkeit, die ich akzeptiere. Die Umkehrung dieses Prozesses, also das Ziel der Patentfähigkeit an den Anfang zu stellen, kann nicht die Zukunft von Wissenschaft sein. Nutzanwendungen entstehen ja dort, wo intellektuelle Freiräume zu finden sind, und wir Forscher Vertrauen bekommen. Unser Denken muss Um- und Abwege nehmen dürfen, auch Scheitern kann nützlich sein. Auch sollte man die Entscheidung darüber, was einer Gesellschaft als nützlich gilt, nicht allein den Nutzanwendungen durch Unternehmen überlassen.
K.WEST: In diesem Jahr ist eine Bestandsaufnahme zur Lage der Geistes- und Kulturwissenschaften erschienen mit dem Titel: »Das Ende der Bescheidenheit. Zur Verbesserung der Geistes- und Kulturwissenschaften«. Ludger Heidbrink und Harald Welzer, zwei am KWI forschende Wissenschaftler, sind die Herausgeber. Darin stellen sie nicht nur einen Mangel an gesellschaftsrelevanter kulturwissenschaftlicher Forschung und an unternehmerischer Initiative fest; sie anerkennen auch die gesellschaftliche Rechtfertigungspflicht. Ist das in Ihrem Sinne?
LEGGEWIE: Vollkommen. Es geht hier ja nicht um die unternehmerische Qualität der Wirtschaft, an der ich übrigens einiges auszusetzen hätte – nehmen Sie nur die mangelnde Risikobereitschaft, das bequeme Zögern, sich in der hiesigen Energiewirtschaft auf drängende Herausforderungen einzustellen. Wissenschaftler sind insofern unternehmerisch, als sie sich immer wieder neue Fragestellungen erarbeiten, auch sie »investieren« in riskante Erkenntnisprozesse. Aber wir sind frei, nicht Auftragsnehmer einer Wissenschaftsbürokratie oder von Unternehmen.
K.WEST: Wer definiert denn die Relevanzkriterien?
LEGGEWIE: In pluralistischen Gesellschaften gibt es gottlob keine Definitionsbehörde für Relevanz, sondern hier reden sehr viele Menschen mit, auch sogenannte Laien. Wissenschaftler werden sehr vieles weiterverfolgen, was die Gesellschaft für irrelevant hält.
K.WEST: Solange es sich evaluieren lässt.
LEGGEWIE: Das kann ein Problem sein. Es ist nicht verkehrt, wenn am Ende eines Projekts jemand fragt, was man in welchem Zeitraum unter Einsatz welcher Mittel zu welchem Ergebnis geführt hat. Falsch aber ist, diese Fragen zu stellen, bevor etwas auf den Weg gebracht werden kann. Die Formulierung eines Förderantrags ist ein regelrechter Eiertanz vorm Nadelöhr, während nach der Beendigung des Vorhabens die Gesamtbewertung ausbleibt. Die Gesellschaft sichert ihre Ergebnisse schlecht.
K.WEST: Sie treten für eine teilnehmende Beobachtung ein, sind selbst Mitglied im Beirat von Attac gewesen. Ist es übertrieben, Ihr Wissenschaftsverständnis als »science engagée« zu benennen?
LEGGEWIE: Wissenschaftler haben eine soziale Verantwortung, müssen versuchen, zur Bewältigung der großen gesellschaftlichen Probleme einen Beitrag zu leisten, und dazu müssen sie auch das Risiko einer aktuellen Zeitdiagnose eingehen, die sich als falsch erweisen kann.
K.WEST: Sie haben sich in jüngeren Veröffentlichungen eingehend mit den Entgrenzungsphänomenen befasst, die mit dem Schlagwort »Globalisierung« zusammengefasst werden. Zurzeit werden vor allem die negativen Seiten dieses Prozesses diskutiert.
LEGGEWIE: Ich bin Anhänger einer anderen Art von Globalisierung und hielte es für ganz falsch, unser Denken auf überschaubare nationalstaatliche Räume zurückfahren zu wollen. Offene Gesellschaften bieten für jedes Individuum freiere Perspektiven. Sicher produziert die wirtschaftliche Globalisierung Verlierer, sicher irritiert kulturelle Öffnung, aber Kriterien von Gerechtigkeit und Respekt lassen sich auch nur im globalen Maßstab entwickeln.
K.WEST: Dennoch haben Sie dem globalen Kapitalismus die stärkste Legitimationskrise seit Jahrzehnten attestiert. Eine Legitimationskrise, die auch auf die Demokratie übergreifen könnte?
LEGGEWIE: Genau das ist das Problem. Das Versprechen des Neoliberalismus, die Welt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in eine großartige Phase wirtschaftlicher Prosperität zu führen, ist nicht eingelöst worden. Die wirtschaftlichen Schäden gefährden tatsächlich die Demokratie, denn von wachsender sozialer Ungleichheit profitiert der populistische Nationalismus.
K.WEST: »Die Zukunft liegt nicht in einer protektionistischen Panikreaktion, sondern in einer intelligenten Deglobalisierung«, schreiben Sie. Was ist »intelligente Deglobalisierung«?
LEGGEWIE: Eine intelligente Deglobalisierung würde den Globalisierungsprozess fortsetzen, aber mehr lokale oder regionale Spielräume lassen, die den Menschen erleichtern, mit Entgrenzung umzugehen. Eine standardisierte und uniformierte Weltgesellschaft ist nichts anderes als langweilig.
K.WEST: Sehen Sie Tendenzen, dass ein solcher Prozess in Gang kommt?
LEGGEWIE: Bei bestimmten kulturellen Avantgarden ja, und in China lässt sich beobachten, dass noch keineswegs entschieden ist, welche Effekte die Öffnung nach Westen zeitigen wird. Vielleicht geht daraus eine Führung gestärkt hervor, die einen autoritären Weg in die Moderne verfolgt und dies als asiatisches Modell nach Afrika und, wer weiß, nach Europa exportieren wird. Denkbar ist aber auch, dass sich in der chinesischen Gesellschaft mehr kulturelle Freiheit, Demokratie und Anerkennung von Differenz durchsetzt. Ich glaube nicht, dass die Kräfte der Freiheit und der Demokratie in China schon verloren haben.
K.WEST: Kenner Chinas bezeugen gerade eine Art kulturellen Ausverkauf.
LEGGEWIE: Was heißt kultureller Ausverkauf? Die Kultur der 1950er Jahre, in der ich aufgewachsen bin, ist ausverkauft worden. Bedauere ich das? Nein. Wurde dadurch etwas gewonnen? Ja. Haben wir dadurch etwas verloren, was sich wieder zu entdecken lohnte? Vielleicht. Ich bin ein Kind der politisch-kulturellen Amerikanisierung, Rock’n’Roll und die Simpsons waren für meine und die nächste Generation Freiheitsgewinne.
K.WEST: Ein Gefühl der Melancholie, das sich angesichts der zunehmenden Verwechselbarkeit von Ladenpassagen und Produktpaletten einstellt, können Sie aber nachvollziehen, oder?
LEGGEWIE: Mich macht das eher wütend. Doch es gibt nicht nur die Durchsetzungskraft der großen Ketten, sondern auch die Nachricht, dass Wal-Mart aus kulturellen Gründen in Deutschland gescheitert ist. Auch der Erfolg der Bio-Branche zeigt, dass die Menschen in einer sozial so ungleichen Gesellschaft wie der unsrigen gemäß der ihnen von den großen Ketten nahe gelegten ökonomischen Rationalität handeln, aber gleichzeitig entwickeln sie Strategien, die wieder in eine größere Differenzierung zurückführen könnten. Ob es den, wie wir sagen: »verantwortlichen Konsumenten« geben wird, der nicht nur auf den Preis achtet, sondern auch ein reflektiertes Verhältnis zu (seinem) Konsum entwickelt, wird für die Lösung klimapolitischer Probleme von entscheidender Bedeutung sein. //
Im Campus-Verlag ist vor kurzem »Die akademische Hintertreppe« von Claus Leggewie und Elke Mühlleitner erschienen, ein »Kleines Lexikon des wissenschaftlichen Kommunizierens«, 295 Seiten, 22 Euro.
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