Interview: Ulrich Deuter
Seine wichtigsten Bücher (»Der Aufmacher«, »Ganz unten«) stehen in beinah jedem Regal, als er jüngst erneut, in diversen Call-Centern, under cover ging, schlug dies ein wie ein Bombe: Günter Wallraff ist immer noch der Chefaufklärer der Republik. Am 1. Oktober wird er 65 Jahre alt – ein Mann, so drahtig und agil wie ein Springteufel. Wenige Tage bevor Wallraff erneut abtauchte, gab er K.WEST ein Interview, in seinem Haus in Köln-Ehrenfeld. //
K.WEST: In ziemlich genau dem Alter, in dem bei anderen die Rente beginnt, starten Sie ein neues Kapitel Ihrer Berufslaufbahn. Woher kam der Drang – von außen oder von innen?
WALLRAFF: Das hatte nichts mit dem Alter zu tun. Nachdem ich jahrelang gesundheitlich ziemlich angeschlagen war, sogar an Krücken gehen musste, war ich endlich wieder völlig hergestellt. Konnte sogar letztes Jahr wieder am Köln-Marathon teilnehmen – 4 Stunden 12 Minuten, eine ganz passable Zeit. Da fühlte ich mich einfach wieder gefordert. Und so, wie sich die gesellschaftlichen Zustände dramatisch verschlechtern, habe ich den Eindruck, kann ich mich wieder nützlich machen.
K.WEST: Ihre Hauptrecherchearbeit lag in den 60er bis 80er Jahren. Damals gab es im Grunde zwei gesellschaftliche Bruchkanten: Eine zwischen Kapital und Arbeit. Die andere zwischen Obrigkeitsstaat und persönlicher Freiheit. Wo sind die hauptsächlichen gesellschaftlichen Reibeflächen heute?
WALLRAFF: Die eine sicherlich immer noch bei der entfremdeten Arbeit. Die heute nicht nur entfremdet ist, sondern die die Menschen erniedrigt, die Menschenrechte außer Kraft setzt, in vielen Bereichen. In unserer Gesellschaft gilt der zynische Leitsatz: Erfolg gibt recht, egal womit, egal auf wessen Kosten. Hier will ich wieder Einblick in Arbeitssituationen gewinnen – Zeitarbeit, Teilzeitjobs –, da wo Menschen trotz härtester Arbeitsbedingungen kaum mehr ihr Existenzminimum erreichen. Hier habe ich mir einiges vorgenommen; durch eine gute Maskenbildnerin verfüge ich über die Möglichkeit, mein Outfit auf um die 50 verjüngen zu lassen. Sonst wäre mir der Einblick in unsere »schöne neue Arbeitswelt« – so heißt die Serie, die ich in der »Zeit« veröffentliche – verwehrt. Die zweite große Gefahr, die ich sehe, ist, dass moralische Werte total in Frage gestellt werden. Das zeigt sich schon daran, wie sehr in Deutschland ein Begriff wie Gutmensch zum Schimpfwort geworden ist. Wenn jemand, der Ethik und Moral berücksichtigt, allein deswegen verunglimpft werden kann, offenbart das eine Gesellschaft, die dabei ist, sich aufzugeben. Es brodert, vielmehr brodelt etwas hierzulande, was nur noch dem Zynismus und der Selbstdarstellung verpflichtet ist, der vordergründigsten Abqualifizierung …
K.WEST: »Brodert« – war das Absicht? Meinten Sie Henryk M. Broder damit?
WALLRAFF: Ich will es mal so sagen: Es war kein Freud’scher Versprecher. Es war nicht absichtslos.
K.WEST: Meint der Begriff Gutmenschentum aber nicht eher eine vordergründige, sozusagen kostenlose Erregung, die sich nicht groß um Zusammenhänge schert, sondern nur immer Schuldige sucht?
WALLRAFF: Gut, aber solche Menschen weisen immerhin auf Missstände hin! Während die anderen, die sich in ihrer Selbstherrlichkeit darüber erheben und sich über alles und jeden als Richter aufspielen, in Wahrheit die Schlimmbeutel sind. Weil sie sich aus jeder Verantwortung stehlen und nur noch mit ausgestrecktem Zeigefinger Feindbilder ausmachen.
K.WEST: Aber zurück zur Ausgangsfrage: Würden Sie also sagen, der Hauptkonflikt besteht heute zwischen denen, die drin sind im Spiel, und denen, die draußen sind?
WALLRAFF: Es gibt bei uns eine Gesellschaftsclique, die sich selbst feiert oder feiern lässt, und es gibt bestimmte Medien, die diese Feier inszenieren. Dabei ist das manchmal nur der Abschaum, der sich da im Scheinwerferlicht suhlt, aber als Vorbild hingestellt wird. Andererseits gibt es diejenigen, die sich wirklich um die Gesellschaft verdient machen, sehr viele namenlose Menschen im Dienstleistungsbereich. Doch die werden meist verachtet oder kommen zumindest nicht vor.
K.WEST: Können Sie ein Beispiel dafür nennen?
WALLRAFF: Sind sie es überhaupt wert, genannt zu werden? Von einer bestimmten Presse, also von »Bunte«, »Focus«, »Bild«, »Bild am Sonntag«, der ganzen Yellow Press sowie bestimmten Fernsehsendern, nicht nur privaten, werden pausenlos Vorbilder produziert, die zum Kotzen sind. Mit Adelstiteln verbundene oder welche aus dem Show-Geschäft wie z. B. ein Herr Bohlen, der an Zynismus und Menschenverachtung nicht zu überbieten ist. Wie der in seinen Casting-Shows junge Menschen auf seinen Leim lockt! Wird aber von einer ansonsten angesehenen Politikerin für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen. Oder in Berlin, wer repräsentiert das Berliner Kulturleben in den Gazetten, ist das nicht ein Frisör?
K.WEST: Ekligkeiten, aber auch Lächerlichkeiten. Gibt es nicht Schlimmeres im medialen Sektor?
WALLRAFF: Ja. Und ich denke da vor allem an den Kampagnen-Journalismus, der längst nicht mehr nur namenlose Opfer trifft. Man nehme nur diese Kampagne gegen Seehofer, der so wie jeder ein Recht auf Privatleben hat. Aber der, wenn er sich dieser Presse verweigert, gnadenlos verfolgt wird bis ins Schlafzimmer hinein. Ich nenne so etwas »Journalismus als Menschenjagd«.
K.WEST: Was ist passiert in den letzten 30 Jahren, dass Günter Wallraff einen CSU-Politiker in Schutz nimmt?
WALLRAFF: Das habe ich immer so gehalten, ich habe mich immer von Fall zu Fall engagiert, da wo Menschenrechte verletzt werden. Ich habe nie einer Partei angehört, von daher bin ich völlig unabhängig in meinen Einschätzungen. Aber, es ist alles ein bisschen komplizierter geworden. So hätte ich mir nach meiner Call-Center-Untersuchung nie träumen lassen, fast zehn Millionen Menschen über Sendungen zu erreichen, in denen ich früher nicht vorkam, ob es das Sat 1- Frühstücksfernsehen war oder die Kerner-Show. Und plötzlich tut sich was: Gerade hat die Länderkonferenz der Verbraucherschutzminister entschieden, dieser Seuche der Telefondrückerei beizukommen und Abschlüsse per Telefon demnächst zu untersagen. Ich bilde mir was drauf ein, daran einen großen Anteil zu haben. Also: Man kann mit kleinen Mitteln noch enorm viel erreichen.
K.WEST: Muss man nicht den Eindruck gewinnen, dass weite Kreise der Gesellschaft mitmachen bei diesem Spiel? Früher kamen die einfachen Leute in den Medien kaum vor. Jetzt dominieren sie das Fernsehen, und am allgemeinen Run auf das nächste Konsumobjekt nehmen sie in vorderster Reihe teil.
WALLRAFF: Sie sind die Opfer, die sich an den letzten Strohhalm klammern. Wer in diesen Sendungen vorkommt, das sind oft die Unbedarftesten, Hilflosesten. So wie sie früher in die Beichtstühle gingen, so gehen sie heute in die öffentlichen Beichten und lassen sich vorführen und müssten eigentlich danach Therapien ermöglicht bekommen. Tittitainment nennt man das: die Massen zur Brust nehmen, sie abstillen und letztlich unmündig halten.
K.WEST: Wo könnten Sie in diesem Feld eine Aufgabe für sich sehen?
WALLRAFF: Aufklärung – schlicht und einfach. Sichtbar machen, Zusammenhänge zeigen, da wo Menschen entwürdigt, betrogen, übervorteilt werden. Aber auch wo sie mitspielen, wo sie selber mit beteiligt sind, vielleicht selber mit schuldig werden. Wo Opfer und Täter oft nicht mehr so leicht auseinander zu halten sind. Wie in der Call-Center Branche. Aber in anderen Bereichen erleben Sie noch reine Opfer: innerhalb des Zeitarbeitssektors etwa. Zum Beispiel bei McDonald’s, da hat sich nicht viel geändert. Was ich jetzt gerade von einer großen Filiale in Köln erfahren habe: Da herrschen die gleichen Zustände wie die, die ich in »Ganz unten« beschrieben habe. Da werden Leute gezwungen, zwei Schichten hintereinander zu arbeiten, bis zum Umfallen. Und das für Hungerlöhne – gerade mit Ausländern wird das gemacht oder solchen, die sonst keine Arbeit bekommen. Es ist in unserem Land Vieles im freien Fall, das von der Arbeiterbewegung über Generationen hin erkämpft wurde. Und Rechte gelten nicht mehr. Die Gewerkschaften, die eigentlich eine gestaltende Kraft sein sollten, stehen mit dem Rücken zur Wand, die Mitglieder laufen davon.
K.WEST: Warum ist das öffentliche Interesse an diesen Dingen nicht mehr oder nur noch schwach vorhanden, warum dauert die Empörung darüber im besten Fall ein paar Minuten und wendet sich dann anderen Themen zu?
WALLRAFF: Weil die Lobby nicht mehr da ist. Die Gewerkschaften haben nicht mehr die Kraft, nicht mehr die Mitgestaltung, sie sind in vielem zahnlose Tiger. Würde es die Gewerkschaften allerdings gar nicht mehr geben, wäre die mancherorts vorhandene Ausbeutung noch rigoroser. Deswegen muss die Forderung sein, in die Gewerkschaften hineinzugehen und ihnen etwas abzuverlangen. Aber! Ich komme in Ostdeutschland in die Berufsschulen, ich frage, wer ist in der Gewerkschaft? Da melden sich in einer Klasse, in der 50 Schüler sitzen, ganze zwei. Ich frage, warum werdet ihr anderen nicht Mitglied? Da bekomme ich zur Antwort: Das wird nicht gern gesehen, wenn das bekannt wird, dann haben wir keine Chance, nach der Lehre übernommen zu werden.
K.WEST: Bedeutet das, wir sind auf den Zustand vom Ende der 50er Jahre zurückgefallen, als die Gewerkschaften, jedenfalls in den Augen der damals herrschenden Kreise, als systemfeindlich eingestuft wurden?
WALLRAFF: Würde ich so sagen. In den mittleren und kleinen Betrieben ist die Gewerkschaftszugehörigkeit manchmal ein Grund dafür, dass jemand entlassen oder gar nicht eingestellt wird. Und wenn er einen Betriebsrat gründen will, wird er gemobbt.
K.WEST: Durch welche Kräfte sehen Sie denn eine soziale und freie Gesellschaft derzeit am meisten bedroht?
WALLRAFF: Gefährlich ist, wenn die Demokratie als Selbstverständlichkeit angenommen wird und man sie nicht mehr von innen belebt. Wenn man nur noch als Stimmvieh zur Wahl geht, wenn überhaupt. Gefährlich ist auch das Mitläufertum, das Duckmäusertum, die fehlende Zivilcourage. In Deutschland besonders stark entwickelt.
K.WEST: Hat das zugenommen?
WALLRAFF: Es nimmt zu. Durch Einschüchterung, durch Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes, Angst, zu den Verlierern zu gehören. Und, wie schon gesagt, durch Orientierungslosigkeit. In Vielem herrscht allerdings auch eine Gratisangst, wo es keinen Grund gibt, sich wegzuducken. Nachdem ich den Vorschlag gemacht hatte, hier im Gemeindehaus der Ehrenfelder Moschee aus den »Satanischen Versen« von Salman Rushdie zu lesen und das zur Diskussion zu stellen, hatte »Spiegel Online« eine Umfrage unter Persönlichkeiten gemacht – Künstlern, Schriftstellern, Politikern –, ob sie meinen Vorschlag unterstützen würden. Zwei Drittel, das ergab die Umfrage, wollten ihre Zustimmung nicht zitiert wissen, aus Angst, dann auf die Liste der Islamisten zu kommen. Wenn eine Bedrohung, die sich gegen einzelne richtet, solche Angst erzeugt – wie werden sie dann erst reagieren, wenn es eine wirkliche Bedrohung gibt. Wenn wie in Sachsen die NPD schon mehr Stimmen in den Umfragen hat als die SPD. Wenn ganze staatliche Strukturen unterwandert sind. Von daher bin ich auch gegen die Internet-Überwachung, die jetzt gefordert wird. Noch haben wir demokratische Strukturen, auch in diesen sogenannten Diensten. Das muss aber nicht von Dauer sein.
K.WEST: Ihre Recherche in den Call-Centern betraf ja ein vergleichsweise kleines Problem – verglichen mit ihren legendären damaligen Ermittlungen. Und verglichen mit den Problemen, die Sie hier im Gespräch ansprechen. Wie geht es jetzt weiter?
WALLRAFF: Ich bin dran, ich habe gerade drei Sachen in Vorbereitung, eine davon wird gelingen und jetzt losgehen. Ich hoffe, dass ich an meinem Geburtstag bereits in dieser Rolle drin bin, dann habe ich einen Grund mehr zu entfliehen …
K.WEST: Können Sie die Branche nennen?
WALLRAFF: Es hängt mit dem zusammen, über das wir soeben sprachen.
K.WEST: Als Sie Mitte der 70er Jahre die rechten Putschversuche in Portugal aufdeckten, kamen Drohbriefe, und es brannte Ihr Haus. Wer, welche Kräfte würden Ihnen heute das Dach überm Kopf anzünden?
WALLRAFF: Sicherheitsbehörden haben mir nahe gebracht, dass ich auf einer der al-Qaida zugerechneten Website die Ehre bekam, als Islam-Feind Nummer eins ausgelobt zu werden. Wegen der geplanten Rushdie-Lesung. Polizeischutz vor dem Haus lasse ich mir also gefallen, denn es gehen ja hier auch andere Menschen ein und aus. Aber der beste Schutz für mich ist, in eine neue Rolle abzutauchen. Ein Kopfgeld wie für den armen schwedischen Karikaturisten ist auf mich allerdings nicht ausgesetzt.
K.WEST: In den 60er und 70er Jahren hat es starke soziale Bewegungen aller möglicher Couleur gegeben, die sich für eine Verbesserung der Gesellschaft einsetzten. Vergleichbares ist derzeit nicht zu erkennen. Woher soll die Kraft kommen, diese zynisch und orientierungslos gewordene Gesellschaft zu reformieren?
WALLRAFF: Aufklärung, schon sehr früh in den Schulen. Unterrichtsfach Zivilcourage. Auch das Internet müsste ein Unterrichtsfach werden, denn das ist nicht nur ein Weltgedächtnis, sondern könnte zu einem Weltgewissen werden. All die Menschen, die guten Willens sind, zusammenzurufen, ist schwierig geworden. Früher war Verlass darauf, dass man in SPD-Kreisen oder bei den Grünen eher ein soziales Gewissen fand, das funktioniert heute nicht mehr so einfach. Ich sage nicht, die Politiker versagen. Man muss diejenigen herausfinden, die sich ernsthaft engagieren, und diejenigen, die ihr Amt als Karrieresprung ansehen und sich später an die Tröge der Lobbys begeben. Schröder ist da kein gutes Vorbild, auch Clement nicht. Ich habe nie erwartet, dass er, nachdem er als Bundesminister den gesetzlichen Rahmen für Leiharbeit liberalisiert hatte, anschließend Vorstand in einer Zeitarbeitsfirma werden würde. So wie Schröder bei der Gasprom. Die Verführbarkeit von Politikern ist naheliegend, wenn man weiß, wie Lobbyverbände arbeiten. Darum finde ich die Offenlegung der Pfründe so wichtig. Wichtiger als das Ausschnüffeln der Lebensumstände von Hartz-IV-Empfängern. Inzwischen gibt es ja sogar Lobbys, die ihre Leute in den Ministerien sitzen haben, wo sie die Gesetze mitgestalten. Da ist die Demokratie sehr gefährdet.
K.WEST: Das wäre ein Job für Sie!
WALLRAFF: (lacht): Als Lobby-Vertreter, ja, warum nicht. So eine Art »Verhunzinger«, der z. B. den Scharping beim Herrenausstatter standesgemäß einkleiden ließ.
K.WEST: Zumal man sich dafür nicht einmal jünger machen muss.
WALLRAFF: Genau! Da spielt Alter keine Rolle. K.WEST: Haben wir Ihnen jetzt einen Tipp gegeben oder waren Sie schon vorher darauf gekommen? WALLRAFF: Ja, ich kriege ständig Tipps aus allen Ecken. Heute noch riet eine Journalistin vom »Standard« aus Wien, ich sollte doch als Konvertit in eine islamistische Vereinigung eintreten. Aber das würde man mir bei meiner Freundschaft zu Salman Rusdie und meiner jetzigen Initiative für die Moscheelesung kaum abnehmen. Wiewohl, man kann sich verkleiden. Alles ist möglich.
K.WEST: Ich hatte nach den Kräften gefragt, die heute etwas bewegen könnten. Jetzt klingt Ihre Antwort zwar nicht resignativ, aber doch nicht sehr hoffnungsvoll.
WALLRAFF: Wenn man es realistisch einschätzt, muss man sagen, einiges geht verdammt den Bach runter, und die rettenden Kräfte sind sehr schwach. Andererseits war Sisyphos immer eine Leit- und Leidfigur für mich. Weitermachen, auch wenn der Brocken immer wieder runterdonnert und man nie das Glücksgefühl hat, den Gipfel zu erreichen. Aber dennoch. Und: Es gibt auch anderen den Mut, sich einzubringen. Wenn alle so tun, als wäre mehr möglich, dann ist letztlich auch viel mehr möglich, als wir im Moment für möglich halten. Wer lebt, sage nie niemals. Der Mensch hat nur so lange überlebt, weil er das anpassungsfähigste Lebewesen ist. Ich glaube, wenn uns demnächst die Umweltkatastrophen einholen, die wir in unserer Gier und Unersättlichkeit zu verantworten haben, dann werden – hoffentlich nicht zu spät – auch die Kräfte gestärkt, die zu retten versuchen. Da setze ich übrigens noch Hoffnungen in die USA. Es gibt ein anderes Amerika als das des kriegslüsternen Fanatikers Bush. Dort gibt es neuerdings ein steigendes Umweltbewusstsein und einen starken Verbraucherschutz. Viel mehr als hier. Der nächste Präsident wird einen ganz anderen Kurs einschlagen müssen. Ich wünsche mir, dass die USA wieder eine stärker gestaltende Funktion als Weltkraft einnimmt. Denn wenn an die Stelle der USA China tritt, was im Moment so aussieht, dann wird es nicht besser. Dann herrschen nur noch Effektivität und Großmachtallüren. Entpersönlichung, Entindividualisierung – alles was an Aufklärung erreicht wurde, wird dann von der Weltkarte verschwinden. Und Europa wird eine Art Kulturdisneyland für chinesische Investoren sein. Da kommt aus Indien noch eher eine Hoffnung, Indien ist immerhin eine Demokratie. Und eine Demokratie hat auch in wirtschaftlicher Hinsicht langfristig gesehen die größeren Chancen.
K.WEST: Wie wünschen Sie sich, dass Ihr Alter aussehen sollte?
WALLRAFF: Puh! Alter, was ist das, bin ich nicht jetzt schon alt? Ich kann mir nicht vorstellen, richtig alt zu werden, ich fühle mich heute viel jünger als vor zehn Jahren.
K.WEST: Was soll noch kommen?
WALLRAFF: Da kommt noch einiges, so lange die Kräfte reichen. Und wenn die nicht mehr da sind, dann kann ich mir immer noch als letzte Rolle eine Recherche im Alten- und Pflegeheim denken. Dann muss ich mich nicht mal mehr verstellen.
K.WEST: Also wallraffen – wie das nach Ihrem Namen gebildeten schwedische Wort für investigativen Journalismus lautet – wallraffen bis zum Schluss?
WALLRAFF: Hoffe ich doch. Darüber mache ich mir jetzt keine Gedanken. Ich mache mir ja auch nie große Pläne. Ich weiß, was ich die nächsten zwei Jahre mache. Und was dann ist, wer weiß. Es liegt nicht an mir. Wenn es nach mir geht, mache ich das noch sehr lange.
Im Verlag Kiepenheuer & Witsch ist soeben eine Biografie Günter Wallraffs erschienen: Jürgen Gottschlich: Der Mann, der Günter Wallraff ist. 304 S., 19,50 €