150 Jahre ist es her, dass im Tal der Düssel 16 seiner Knochen gefunden wurden. Seither hat der arme Mensch und haben all seine unterdessen noch aufgefundenen Verwandten eine bodenlos schlechte Presse. Sie galten und gelten als eine Bande ungeschlachter, ungehobelter und unterbelichteter Wesen, die schon wegen ihrer Blödheit und tierischen Ungeschicklichkeit verdientermaßen vor Jahrtausenden ausgestorben seien. Unter den Vertretern des sieghaft weiterentwickelten Homo sapiens ist der Name jener armen Vettern zur gebildet klingenden Beleidigung geronnen: Neandertaler! Zum Jahrestag seiner Entdeckung aber zeichnen Wissenschaftler in Ausstellungen und in einem Symposium ein neues Bild vom Neandertaler, das einer weitgehenden Rehabilitierung des geschmähten Urmenschen gleichkommt.
Dass der Neandertaler heißt, wie er heißt und nicht mit einem unaussprechlichen Namen à la Pithecanthropus belegt wurde, trug vermutlich zu seiner – negativen – Popularität bei. Dabei passt die kuriose Herkunft des Namens durchaus nicht zum Bild der kulturlosen Dumpfbacke. Er geht zurück auf einen Mann des 17. Jahrhunderts, der eigentlich Joachim Neumann hätte heißen müssen – wäre seine Pastorenfamilie nicht der zeitgeistigen Mode verfallen, Familiennamen nach »humanistischer« Art zu graecisieren. So kam der junge Neumann als Joachim Neander nach Düsseldorf. Dass der Lateinschulrektor, Hilfsprediger und Verfasser pietistischer Kirchenlieder gern im Tal der Düssel spazierenging, daran erinnerte man sich im romantischen 19. Jahrhundert – und nannte die Gegend Neanderthal (damals noch mit h).
Das hinderte die Gemütsmenschen nicht daran, dieses hübsche Tal auf der Suche nach Kalk industriell zu zerwühlen – und Kalkarbeiter waren es, die im August 1856 aus der Feldhofer Grotte jene 16 Knochenfragmente zu Tage förderten, welche vom Elberfelder Realschullehrer Carl Fuhlrott gegen vielfachen empörten Widerstand, aber völlig korrekt als Überbleibsel einer urtümlichen Menschenart eingestuft wurden. 1864 gab man diesem Urmenschen seinen wissenschaftlichen Namen Homo neanderthalensis. Weil seine Knochen die ersten waren, die nolens volens als Zeugnis einer vorbiblischen Urmenschenart erkannt und anerkannt wurden, erregte der Fall einiges Aufsehen. Letztlich markierte er den Beginn der modernen Hominidenforschung, wie es jetzt zum Jubiläum heißt. So wurde der humanistische Name jenes pietistischen Predigers, dessen Gebeine übrigens an unbekannter Stelle in bremischer Erde liegen, vom Neandertaler um die Welt getragen. Dass er ausgerechnet zum Inbegriff des affenartigen Primitivlings wurde, lag an verzeihlichen und weniger verzeihlichen Fehlern, die bei der Rekonstruktion seines Skeletts aus den gefundenen Fragmenten gemacht wurden. Eine kleine Sonderschau »Hautnah.Neanderthaler« im Mettmanner Neanderthal-Museum (beim Fundort blieb man der alten Schreibung treu) widmet sich dem »Imageproblem« des ausgestorbenen Vetters und zeigt, wie stereotyp man den Neandertaler mit dem »Mythos Wilder Mann« verband: »Gebückt, behaart, nackt, mit Keule und immer in Höhlennähe«, so zeigt er sich mit blödem Gesichtsausdruck auf Dutzenden Abbildungen. Ironisch hat man über diesen Bildern den Ausstellungshimmel voller Keulen gehängt. Dabei ging der Neandertaler gar nicht gebückt, war er gar nicht sonderlich behaart, lief nicht nackt herum und nicht im tarzanigen Lendenschurz, sonst hätte er in der Kaltzeit erbärmlich gefroren. Und auch die primitive Keule ist bloße Erfindung, es gibt keinen Hinweis darauf, dass der Neandertaler damit gejagt oder gekämpft hätte.
Näher kommt man dem Neandertaler im zweiten Teil der Sonderausstellung. Stellvertretend werden die Schicksale verschieden alter Individuen geschildert, die im Lauf der Zeit an verschiedenen Orten gefunden wurden. Vom ersten Neandertaler, dem aus dem Neandertal, erfährt man zum Beispiel, dass er bei seinem Tod etwa 60 Jahre alt war, eine schlecht verheilte Verletzung am Unterarm sowie eine Kopfverletzung hatte, dass er an Altersdiabetes litt und an einer Nebenhöhlenentzündung. Nur ein Rohling könnte sich von dem gezeigten Skelett eines kleinen Neanderkindes nicht rühren lassen. Die Kommentare dagegen sind höchst lakonisch: »Das Leben der Neandertaler war kurz und körperlich anstrengend.« Oder: »Es kann ausgeschlossen werden, dass Neandertaler Probleme mit Übergewicht hatten.« Ebenso lapidar die späte, vollständige Ehrenrettung: »Ein kulturelles Gefälle zwischen den beiden Menschen des Eiszeitalters (nämlich Sapiens und Neanderthalensis) wird heute ausgeschlossen.« Im Inneren zweier Rotunden wird gezeigt, was ein Neandermann, eine Neanderfrau, ein Jugendlicher und ein Kind typischerweise anhatten und mit sich herumtrugen – und das sieht auf den ersten Blick nicht viel anders aus als die Habseligkeiten eines modernen »Indianers«. Außen an den Rotunden werden typische Lebensstationen und Besitztümer heutiger Industriezeit-Menschen parallel gesetzt zur Welt der Neandertaler – und zwar so, dass bei allen offensichtlichen Unterschieden doch das eine Gefühl überwiegt: »Ich bin wie du.« Mehr oder minder große Ähnlichkeit zwischen Sapiens und Neanderthalensis demonstriert eine Diashow, bei der die Gesichter prominenter Jetztmenschen »gemorpht« werden, das heißt: entsprechend den typischen Parametern der Neandertalerschädel elektronisch verfremdet. Ob Queen oder Boris Becker, Merkel, Mozart oder Mona Lisa – wiederzuerkennen sind die meisten ohne Schwierigkeit. Dass gerade die Gesichter Franz Münteferings und George Bushs sich offenbar gar nicht zur Neandertalisierung eignen und nach dem Morphing kaum zu identifizieren sind, mag jene irritieren, die die beiden Herren zu den weniger kultivierten Vertretern der Spezies Sapiens zählen. Geradezu verstörend kann die umgekehrte Erfahrung sein, wenn man sich im Museumsshop selbst der Prozedur des Morphings unterzieht: In einem Automaten vom Typ der Bahnhofs-Passbildmaschinen wird für drei Euro eine Seitenansicht des Probandenschädels gefertigt, die alsdann per Knopfdruck auf Neandertaler-Maße gebracht wird. Frohgemut haben wir das Experiment gewagt und mussten feststellen, dass die beiden Porträts erschreckend ähnlich ausfielen – was wir unbedingt auf einen technischen Fehler zurückführen möchten. Oder vielleicht auch nicht, angesichts eines Buchtitels im Museumsshop: »Neandertaler – Genies der Eiszeit«.
Während seine letzte Ruhestätte im Tal der Düssel vollständig dem Kalkabbau zum Opfer fiel, fand der Original-Neandertaler 1877 in Bonn Asyl. Der Vorläufer des heutigen Rheinischen Landesmuseums nahm ihn – respektive seine 16 Knochen – auf, um ihn vor dem Verkauf ins Ausland zu bewahren. Bis heute wird der Neandertaler im Bonner Museum aufbewahrt. Zum 150. Jahrestag seiner zufälligen Exhumierung veranstaltet das Museum nun vom 7. Juli an ein superlatives Familientreffen mit näheren und ferneren Verwandten aus Afrika, Asien und Europa in einer »Zusammenschau aller bedeutenden fossilen Menschenfunde aus der sechs Millionen Jahre währenden Entwicklungsgeschichte«: ROOTS – Wurzeln der Menschheit. Mit »40 Kronjuwelen der Hominidenforschung in nie dagewesener Fülle« wird die Schau als bedeutendste ihrer Art seit 1985 angesagt; damals blickte man in New York auf unsere »Ancestors« zurück. Die Ausstellung und ein wissenschaftlicher Kongress an der Bonner Universität (21. bis 26. Juli) ziehen auch eine Bilanz der Neandertaler- Forschung, die jüngst mit modernen Methoden viel zur Neubewertung und Rehabilitation des vermeintlich tumben und plumpen Vetters beigetragen hat. Seit 1991 wird auch der namengebende Mann aus dem Düsseltal neu untersucht. Das von Dr. Ralf Schmitz geleitete Forschungsprojekt des Landesmuseums und der Universität Tübingen hat sogar die vor Jahrzehnten weggebuddelte Feldhofer Grotte lokalisieren können und, etliche Meter unterhalb des Fundortes, weitere Hinterlassenschaften der Neandertaler ausgegraben. Einige Knochenfragmente deuten auf einen zweiten Menschen hin, andere passten zum Teil ganz exakt zu einem der 16 Ur-Knochen von 1856. Darunter waren Knochenfragmente vom Kopf, so dass man daraus jetzt am Computer eine dreidimensionale Rekonstruktion des Schädels hergestellt und schließlich sogar eine plastische Rekonstruktion des Gesichts gewagt hat.
Auch mit Hilfe moderner DNA-Analyse ist man dem Neandertaler in den letzten Jahren näher gekommen. Dabei wurde unter anderem einwandfrei festgestellt, dass Neanderthalensis kein Vorfahre des modernen Sapiens war, sondern eine Nebenlinie der Menschheitsentwicklung, eben ein Vetter oder auch ein Schwipp-Onkel. Es entfällt somit auch endgültig die umständliche wissenschaftliche Bezeichnung Homo sapiens neanderthalensis und zumindest in diesem Zusammenhang auch die so überaus schmeichelhaft doppel-weise Bezeichnung für unsereiner: Homo sapiens sapiens. Dass genügend Fragen für weitere 150 Jahre Forschung bleiben, zeigt ein Blick auf die Agenda des Neandertaler-Kongresses. Haben Neandertaler wirklich so furchtbar viel Fleisch gegessen und sich bei der dadurch notwendigen Jagd so verausgabt wie oft behauptet? Haben sie sich regional unterschiedlich entwickelt? Und, immer wieder: Warum sind sie ausgestorben? Sowie, weiterer Evergreen unter den ungelösten Fragen: Hat es Kontakte mit modernen Menschen vom Typ Sapiens gegeben – und wenn ja, sind Vettern und Basen einander so nahe gekommen, dass am Ende ein – wenn auch verschwindend kleiner – Teil unserer genetischen Ausstattung neandertalisch ist?
Auch im Westfälischen Museum für Archäologie, Herne, wird des Neandertalers gedacht. Allerdings ist er dort nur eines von vielen Lebewesen, deren Entwicklung unter wechselnden klimatischen Bedingungen gezeigt wird: Klima und Mensch. Leben in Extremen heißt die Ausstellung. Wie die große, ständige Schau des Museums ist die Klima-Schau als Parcours entlang eines Zeitstrahls auf dem Boden angelegt. Neben diesem Zeitstrahl – von minus 5 Millionen Jahren bis in die Gegenwart und weiter in eine ungewisse Zukunft – läuft eine zackige Linie: die Fieberkurve der Erde sozusagen. Mal hält sie sich links, mal rechts der Mitte, der Null-Grad-Linie, und signalisiert so die aufeinander folgenden Warm- und Kaltzeiten. Den Koordinaten Zeit und Temperatur zugeordnet sind Ereignisse und evolutionäre Entwicklungen im irdischen Leben.
An der gezackten Temperaturlinie lässt sich eines der Rätsel ablesen, welche den Neandertaler bis heute umgeben: warum er ausgestorben ist. Dass er einem unzuträglichen Klimawechsel zum Opfer gefallen sei, war eine von vielen Vermutungen. Vor etwa 35.000 Jahren aber, als der letzte Neandertaler seine Spuren hinterließ, zackte die Temperaturlinie recht undramatisch auf der kalten Seite der Mittellinie herum. Nichts, was sein plötzliches Verschwinden monokausal erklären könnte. Zudem bescheinigt die Herner Ausstellung dem Neandertaler eine vorzügliche körperliche Anpassung an kaltes Klima, die übrigens auch zu seiner typischen, flachnasigen Physiognomie beigetragen haben könnte.
»Wir waren nicht allein«, heißt es an einem Punkt der Ausstellung beinahe wehmütig. Tatsächlich weckt der Anblick einer freundlich und gutmütig dreinschauenden Neandertaler-Rekonstruktion neben dem Abbild eines zotteligen und vergleichsweise irgendwie – na: unseriös – wirkenden Neu-Menschen so etwas wie ein schlechtes Gewissen beim Betrachter. Immerhin verschwand der Vetter zu einer Zeit, als Homo sapiens sich in Europa mit Macht ausbreitete. Für einen Ausrottungsfeldzug gibt es zum Glück aber auch keine Beweise, nicht einmal für einen direkten Kontakt. Vielleicht war der Neandertaler im Vergleich zum flatterhaft-nomadisierenden Sapiens zu früh sesshaft geworden, zu heimatverbunden, selbst wenn die Lebensbedingungen in der gewohnten Umgebung schwierig wurden. Vielleicht hat er beim Essen zu sehr der Fleischeslust gefrönt, und vielleicht hat er sich zu wenig der Fortpflanzung gewidmet und deshalb auf lange Sicht dem Immigranten Sapiens das Feld überlassen müssen. Wie auch immer: Nun sind wir allein.
Auch wenn das Klima für sich genommen den Neandertaler nicht hat hinwegraffen können – die Herner Ausstellung macht deutlich, wie die wechselnde Atmosphäre unseres Planeten das Dasein aller Lebewesen beeinflusst hat, auch des Menschen, der sich ohne Klimawechsel gar nicht erst als spezialisierter, aufrecht gehender Savannenbewohner entwickelt hätte. Wie Mensch und Tier sich anpassen konnten oder eben auch nicht, wie der Mensch sich durch Kleidung, Hausbau, Pflanzenzucht vom Klima zu emanzipieren suchte, ist in Herne eindrucksvoll dargestellt – und schließlich auch, wie der Mensch das Klima jüngst beeinflusst hat. Die Frage, wie das alles enden mag, wird offen gelassen. Dass auch Homo sapiens eines Tages aussterben könnte, ob durch eigenes Zutun oder nicht, wird nüchtern ausgesprochen; ebenso, dass unser Verschwinden für die Evolution keine Katastrophe wäre. Das nagt am Ego. Und anders als beim Neandertaler würde auf absehbare Zeit niemand daherkommen und sich angesichts unserer Knöchelchen fragen: Wer war denn das? //
Neanderthal-Museum: bis 24. September 2006; Tel.: 02104/97 97 97; http://217.160.110.111/neanderthal
Rhein. Landesmuseum Bonn: 7. Juli bis 19. November; Tel.: 0228/2070-0; www.lvr.de/FachDez/Kultur/Museen/RLMB/startseite.htm Westf. Museum für Archäologie Herne: bis 30. Mai 2007; Tel.: 0251/591-01; www.klimaundmensch.de