// Am Ende wird David Hohl sich ein weiß bekreuztes rotes Hemd anziehen, um dem Morden zu entkommen. Um ihn herum sterben die Menschen wie die Fliegen. Immer wieder halten Verzweifelte ihn bei seiner Flucht aus Ruanda auf, die in ihm einen Helfer sehen, weil sie das Symbol seines Heimatlandes mit dem des Roten Kreuzes verwechseln.
Es ist die Zeit zwischen April und Juli 1994, in der Lukas Bärfuss erster Roman »Hundert Tage« spielt. Schätzungsweise 800.000 bis eine Million Menschen kamen in diesen gut drei Monaten wäh- rend des Völkermords an den Tutsi ums Leben. Auf dieses historisch verbürgte Fundament ist »Hundert Tage« gebaut. Einreisen lässt Bärfuss Hohl schon Monate vorher, unterwegs in Sachen Entwicklungshilfe in einem Land, von dem Hohl reichlich vage und zugleich überspannte Vorstellungen hat. Im Gepäck hat er einen in der Heimat verlässlich arbeitenden moralischen Kompass, der im Spannungsfeld Ruanda jedoch schon bald keine Richtung mehr anzeigt.
Am Flughafen Brüssel schon verwendet Hohl sich für eine Schwarze, die sich Diskriminierungen der Zöllner ausgesetzt sieht. Doch Agathe, so der Name der Frau, quittiert seine Empörung mit einem leichten Schnalzgeräusch, in dem sich ihre Verachtung für ihn, den unerwünschten Beschützer, ausdrückt. Später wird Hohl ihr wieder begegnen, sie zu seiner Geliebten machen und im Flüchtlingslager noch einmal dieses Geräusch von ihr hören. Hohl hält es, nur einen kurzen Moment lang, für ein Zeichen ihrer Zuneigung. Doch es ist nur der letzte Laut einer Sterbenden. Genauso wie diese ganze Mission ein Flirt mit dem Tod ist, eine Art Sinnstiftungsprogramm für Zivilisationsmüde. Eine Reise ins Herz des schwarzen Kontinents, der Hohl zunächst jedoch nicht finster genug erscheint, um den »metaphysischen Schreck zu fühlen«. Als Missionar in Sachen Humanität gekommen, geht Hohl als Schweizer, nur noch darauf bedacht, seine eigene Haut zu retten.
Rot und Weiß sind die Grundfarben dieses symbolisch auf einfache und doch kühne Weise aufgeladenen Romans. Rot wie das Blut, in dem Ruanda versinkt, weiß wie der Schnee, der sich zu Beginn und am Ende über die Schweiz legt. Zwischen den Ländern liegen auf der Landkarte mehrere tausend Kilometer. Doch Bärfuss, bekannt bislang als Dramatiker, zieht diese Distanz – den Unterschied zwischen Reinheit, Recht und Zivilisation auf der einen, Schmutz, Unrecht und Barbarei auf der anderen Seite – zunehmend ein. So als blende er langsam die Schweizer Fahne über die des Roten Kreuzes, bis sich alle Konturen auflösen und kenntlich wird, dass das bergige Ruanda nicht zu Unrecht seinen Beinamen »Schweiz Afrikas« trägt. Was uns an sie band, so Hohl, »war nichts als ihre Rechtschaffenheit. Wir liebten sie für jene Tugenden, die man die sekundären nennt, die für uns aber von erster Bedeutung waren: Ordentlichkeit, Sauberkeit, Ehrlichkeit. Und die wichtigste von allen: Der Fleiß.« Mit Bärfuss ließe sich dann fragen: Ist es überraschend, dass das Handwerk des Tötens in jenen Tagen selbst im Chaos noch so präzis und gut geregelt wie ein Schweizer Uhrwerk ablief?
Kenntnisreich und dabei dramaturgisch versiert ruft der 1971 in Thun geborene Bärfuss mit »Hundert Tage« den Völkermord an den Tutsi ins literarische Gedächtnis. Dabei scheut er weder einfache Zuspitzungen noch klare Deutungen, weder Klischees noch die gewagte Parallelisierung von Sex und Gewalt. Nicht selten liest sich diese fiktionalisierte Zeitgeschichte als wütende, doch formal beherrschte Anklage, die gestützt wird von der Vermutung, »dass es eine Symbiose gab zwischen unserer Tugend und ihrem Verbrechen.« Das Gericht, vor das Bärfuss hier das westliche Europa in Person des Entwicklungshelfers zitiert, ist das der dialektischen Aufklärung. Nicht zuletzt die resignative Grundierung seiner Selbstanschuldigungen macht »Hundert Tage« zu einem ebenso lesenswerten wie beunruhigenden Buch. //
Lukas Bärfuss, »Hundert Tage«, Wallstein Verlag, Göttingen 2008, 198 Seiten, 19,90 €