INTERVIEW: DIRK PEITZ
Die Französin Bettina Rheims wurde in den frühen 90er Jahren mit ihrer Serie »Chambre Close« schlagartig zu einer der bekanntesten Fotografinnen der Gegenwart: Die Werkgruppe zeigte unbekannte Frauen, die Rheims auf der Straße angesprochen und dann in kitschigem Hotelzimmer-Surrounding abgelichtet hatte – in atemberaubend offenherzigen Posen, die sich die Frauen selbst ausgedacht hatten. Die Kunstkritik reagiert begeistert, blieb sich jedoch uneinig darüber, ob Rheims nun eine Art feministischer Anti-Newton war oder doch nur eine Variante desselben Sujets lieferte, Nacktheit nun eben aus weiblicher Sicht. Rheims, mittlerweile Anfang fünfzig, hat später weitere aufsehenerregende Serien präsentiert, darunter die Star-Reihe »Pourquoi m’as-tu abandonnée?« und »I.N.R.I.«, eine fotografische Neuerzählung der Leidensgeschichte Jesu, die in ihrem Heimatland für einen Skandal sorgte. Im Düsseldorfer NRW-Forum wird jetzt (nach Stationen in Helsinki, Oslo und Wien) eine Retrospektive ihres Werks gezeigt; unter den rund 180 Fotografien ist erstmals auch ihre bislang letzte Serie »Shanghai« zu sehen, für die Rheims ihre übliche Arbeitsweise aufgab, eigentlich nur in geschlossenen Settings zu fotografieren.
K.WEST: Mit welchen Gefühlen begleiten Sie die Retrospektive Ihrer Arbeiten in Düsseldorf?
RHEIMS (lacht): Sie gibt mir das Gefühl, dass ich alt bin. Aber ernsthaft: Retrospektiven, dachte ich zunächst, macht man doch für Künstler, die entweder tot sind oder ihr Werk vollendet haben. Andererseits hatte ich gerade mein großes Projekt in Shanghai beendet und noch kein neues in Planung. Warum also nicht einen Blick zurückwerfen, statt sich in die nächste Arbeit zu stürzen? Am meisten beschäftigte mich dann die Frage, ob mein Werk als Ganzes betrachtet eigentlich Sinn macht: Gibt es einen roten Faden? Ich beugte mich also über eine Unzahl von Kisten mit alten Abzügen und Büchern. Mein Werk, das ist mein Leben. Und mit den Bildern kamen die unterschiedlichsten Dinge wieder zum Vorschein, schöne Erinnerungen, schmerzhafte Erfahrungen, Verluste…
K.WEST: Haben Sie den Roten Faden entdeckt?
RHEIMS: Das ist es, worum es mir geht: Menschen zu zeigen, in Fleisch und Blut. Es wird immer viel über Sexualität in meinem Werk geredet, aber mir selbst erscheint das gar nicht so wichtig. Die sexuelle Konnotation in den meisten Arbeiten ist nicht der entscheidende Punkt. Sondern die Frage von Präsenz und Abwesenheit, Leben und Tod.
K.WEST: Sie arbeiten stets in Werkgruppen – wann und wie wissen Sie, dass eine beendet ist, und wie entwickeln Sie die nächste?
RHEIMS: Jetzt im Moment bin ich an dem Punkt, wo ich eine Serie beende. Das Gefühl dabei ist ein bisschen so, als habe man sich an zuviel Kuchen überfressen. Das ist kein bewusster intellektueller Prozess, stattdessen meldet sich mein Körper. So ist es auch beim aktuellen Projekt: Die ersten Monate waren toll, ich war aufgeregt, konnte kaum schlafen. Aber jetzt bin ich regelrecht krank davon, erst schmerzte mein Rücken, dann bekam ich Augenprobleme. Und wenn einem als Fotografen das Auge zuschwillt, kann das wohl nur bedeuten: Ich bin fertig mit dieser Sache.
K.WEST: Bei Ihrer bislang letzten Werkgruppe »Shanghai« haben Sie sich entschlossen, erstmals eine Stadt zum Thema zu machen und eine fremde Kultur. Weshalb?
RHEIMS: Im Grunde bestehen alle meine Serien daraus, fremde Kulturen zu erforschen. Jesus war vor »I.N.R.I.« für mich in gewisser Weise auch Teil einer mir fremden Kultur. Dasselbe galt, als ich Transsexuelle fotografierte. Was Shanghai angeht: Ich war vor zehn Jahren einmal dort, ich begleitete Cindy Crawford auf einer Promotion Tour – eine dieser kommerziellen Sachen, die ich auch mache. Ich war gleich fasziniert von dieser Stadt, vom Gegensatz zwischen Alt und Neu. Zuhause las ich dann einen Roman der Schriftstellerin Mian Mian, es ging ums Jungsein im heutigen Shanghai. Ich dachte gleich: Das ist ein Thema für mich, da muss ich wieder hin. Meine Arbeit beschreibt immer Transformationsprozesse – jemand wird ein anderer, jemand stellt einen anderen dar. Also war meine Frage, wie sich die rasanten Veränderungen in China auf das Leben von jungen Frauen auswirken.
K.WEST: Sie arbeiteten dabei erstmals draußen, in einem von Ihnen kaum kontrollierbaren Environment…
RHEIMS: Ich musste rausgehen, um die Stadt auch wirklich zu zeigen, ihre Geschwindigkeit, ihren rasenden Puls. Wenn ich mir die Frauen ins Studio geholt hätte, wäre das verlorengegangen. Andererseits darf man nun nicht glauben, dass diese Fotografien ohne präzise Vorarbeit gemacht wurden. Auch wenn ich nach draußen gegangen bin, habe ich doch die Locations sorgsam ausgesucht und ausgeleuchtet – in gewisser Weise sind diese Bilder Fake-Reportagefotos, das ist inszenierte Realität. Diesen Moment der Fälschung gibt es in allen meinen Arbeiten. Und: Ja, ich bin ein Kontroll-Freak. Erst wenn die ganze Szenerie gründlich vorbereitet ist, darf der unkontrollierbare Zufall passieren. Das ist der aufregendste Punkt in meinem Tun, aber er muss seriös geplant sein, damit er zustande kommen kann.
K.WEST: Inwieweit lässt Ihre Arbeitsweise dann aber wirklich Individualität zu? Betrachtet man etwa Ihre Serie »Pourquoi m’as-tu abandonnée?«, könnte man den Eindruck bekommen, es gehe Ihnen mehr um eine These zu »Glamour« als um die Darstellung von Individuen.
RHEIMS: Nun, das ist tatsächlich die einzige meiner Serien, die nicht als solche geplant war und nicht in einem Stück fotografiert wurde. Stattdessen hat sie sich über die Zeit ergeben und ihren Ursprung in Auftragsarbeiten für Magazine, Film- und Musikfirmen. Ich zeige dort durchaus eine Art Übermenschlichkeit, das sind alles Stars, aber es geht vor allem um ganz normale Gefühle von Frauen. Deren Berühmtheit ist für meine Fotografien nur eine Art Vorwort: Madonna ist Madonna, okay, aber wirklich wichtig ist die Frage, was ihr Bild ausdrückt an Gefühlen, an Schmerz und Wonne. Wie ist es, heute eine Frau zu sein – das ist die Frage, die ich mir immer stelle. Ich benutze berühmte Menschen lediglich als Beispiel: Man schaut eben eher hin, wenn es Madonna ist. Hoffentlich erkennt man dahinter aber mehr.
K.WEST: Diese Frauen waren es gewohnt, fotografiert zu werden – in der Serie »Chambre Close« hingegen zeigen Sie unbekannte Frauen. Haben Sie rückblickend eine Erklärung dafür, weshalb die sich so offen zeigten?
RHEIMS: Erstens haben sie mir vertraut, ich habe viel mit ihnen geredet, bevor wir mit dem Fotografieren begonnen haben. Zweitens: Bei fast jeder Frau scheint es einen Moment in ihrem Leben zu geben, wo sie solch einem Angebot gegenüber aufgeschlossen reagiert. Es gibt diese Versuchung, sich vor der Kamera auszuziehen, ich kenne sie selbst, es gab sie auch in meinem Leben. Aber ich habe es nie getan – und es danach immer bereut. Fotografie ist ja überhaupt eine Frage des richtigen Moments, das macht den Unterschied zwischen ihr und aller anderen Kunst aus: Es gibt kein zurück, man kann hinterher nichts mehr ändern. Und wenn du zu spät auf den Auslöser drückst, ist alles umsonst.
K.WEST: Obwohl viele Ihrer Arbeiten mit expliziten sexuellen Darstellungen operieren, erscheinen sie doch nie allein der Provokation wegen entstanden zu sein…
RHEIMS: Man lebt ja als Künstler nicht, bloß um Lärm zu schlagen. Auch wenn manche Leute meine Arbeiten provokant und oberflächlich finden: Ich habe in all den Jahren nie überlegt, wen ich damit schockieren könnte. Selbst bei »I.N.R.I.« habe ich nicht mit dem Skandal gerechnet. Serge Bramly und ich haben vorher ein Jahr lang recherchiert. Und selbst als wir mit dem Shooting begonnen hatten und uns viele Leute am Set besuchten, gab es niemanden, der gesagt hätte: Vorsicht! Erst als wir das »I.N.R.I.«-Buch zum ersten Mal sahen, und der Verlag das Bild der Frau am Kreuz auf den Titel getan hatte, bekamen wir es mit der Angst zu tun. Interessant ist jedoch, dass »I.N.R.I.« heute noch immer als Ausstellung wandert und vor allem in Kirchen gezeigt wird. Es ist am Ende doch gut gegangen.
K.WEST: Gestatten Sie eine letzte Frage, die Sie vermutlich schon sehr oft gehört haben: Warum fotografieren Sie kaum Männer?
RHEIMS: Ich weiß einfach nicht, wie man Männer fotografiert. Ich habe es versucht, aber die Ergebnisse sprachen mich nie an. Und dann ist es so, dass ich kein Interesse daran habe, die Männer zu fotografieren, die mich intellektuell oder körperlich faszinieren. Mit denen möchte ich eher reden. Oder ausgehen. Serge Bramly sagt immer, meine gesamte Arbeit bestehe daraus, dass ich Selbstporträts mache. Vielleicht ist da etwas dran. Aber ich will es auch gar nicht so genau wissen. Mein Tun erscheint mir schon so schwer genug, da möchte ich über das Weshalb und Wieso nicht auch noch lange nachdenken müssen.
Bis 28. August 2005. Tel.: 0211/89 266 90. www.nrw-forum.de/ Im Verlag Schirmer/Mosel ist unter dem Titel »Retrospective« ein Überblicksbuch über das Schaffen Rheims’ erschienen, es kostet 39,80 Euro.
Alle Fotos: © Bettina Rheims. Courtesy Galerie Jérome de Noirmont, Paris.