TEXT: MARTIN KUHNA
Gerd Krumeich, bis 2010 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Düsseldorf, gilt als herausragender Experte für den vor fast 100 Jahren begonnenen Orlog – auch in Frankreich, wo »La Grande Guerre« eine weit größere Rolle spielt in der kollektiven Erinnerung als bei uns. Krumeich war maßgeblich beteiligt, als vor 20 Jahren in Péronne, bei den Somme-Schlachtfeldern, ein eigenes Museum zum Ersten Weltkrieg entstand. Auf das Thema hatte ihn, wie das so geht, sein akademischer Lehrer Wolfgang Mommsen angesetzt; Krumeich schrieb seine Dissertation (1977) über Aufrüstung und Innenpolitik in Frankreich 1913-1914. Damit war er schon ganz nah der entscheidenden, quälenden Frage: Wie hat es zu diesem Krieg kommen können, wie hat er so lange dauern können?
Nach kurzem Zögern – »der Erste Weltkrieg lässt mich nicht los« – steigt der Professor im Gespräch wieder hinein in jene Zeit; die Namen der damaligen Protagonisten jagen einander wie im historischen Hauptseminar. Kühl betreibt er das nicht: »Jeder Moment dieser Scheiß-Zeit steht mir vor Augen.« Neulich, auf einer Fachtagung des Landschaftsverbandes Rheinland, ist er auf der Bühne in die Rolle des Friedrich von Bernhardi geschlüpft, dessen Buch »Deutschland und der nächste Krieg« 1912 Aufsehen erregte. Geläufig vertrat Krumeich die Argumente des bellikosen Ex-Generalstäblers gegen pazifistische Positionen. Es geht ihm darum, Gedanken und Mentalität der damaligen Akteure zu begreifen, anstatt ihnen vorzuwerfen, was sie aus heutiger Sicht hätten besser wissen müssen.
Geradezu ärgerlich wird Gerd Krumeich, wenn er auf das jüngste Buch seines australischen Kollegen und Freundes Christopher Clark angesprochen wird. Clark beschreibt darin die europäischen Regierenden als »Schlafwandler«, die letztlich doch in den Krieg hineingestolpert seien, wobei die Deutschen nicht mehr Schuld treffe als andere. Das befriedigte ein noch immer verbreitetes deutsches Bedürfnis, wenigstens am WK I nicht schuldig zu sein. Entsprechend war das Echo. Krumeich, der die englische Version des Buches rezensiert hatte, war von dem »Hype« um die deutsche verblüfft. Gegen diese »Clarkerei« streitet er: »Die Deutschen hatten mehr als andere den Finger am Drücker.«
Von Stolpern und Schlafwandeln könne keine Rede sein, sagt Krumeich, auch nicht von »Urkatastrophe«. Das klinge nach Naturereignis. »Der Erste Weltkrieg war alles andere als das.« Sondern Ergebnis damaliger Mentalitäten und Handlungen. Der Imperialismus und die Überzeugung, dass ein Land nur auf Kosten anderer gedeihen könne, seien allgemein verbreitet gewesen, sagt er. Auch das Bewusstsein, dass daraus Krieg entstehen und sich durch die komplizierte Bündnis-Mechanik rasch ausbreiten könnte. Solcher Fatalismus machte sich selbst in der SPD breit. Als reinigendes »Stahlbad« habe den Krieg nur eine Minderheit ersehnt. Militärs spielten aber mit dem Gedanken »Besser jetzt als später«.
Eine deutsche Besonderheit war die Furcht vor der »Einkreisung« durch feindselige Nachbarn – ein Phänomen, so Krumeich, das wissenschaftlich noch keineswegs ausgeleuchtet sei. Typisch für die deutschen Regierungen war auch ein irrationales und schwer zu durchschauendes Agieren in den wiederkehrenden Krisen. So auch im letzten Akt, als Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärte. Die Deutschen glaubten, dass Russland den Serben nicht zu Hilfe kommen würde und ließen es darauf ankommen. Als Russland doch mobilisierte, antwortete Deutschland sofort mit eigener Mobilmachung und Kriegserklärung. Dann: Frankreich macht mobil, Deutschland mobilisiert nach Westen – und greift am 2. August an. Klack, klack: Allein die Schilderung macht schwindelig.
Warum aber die deutsche Eile, obwohl die russische Mobilmachung bekanntermaßen Wochen dauern würde und Raum für Verhandlungen gelassen hätte? Da habe sich die Regierung Bethmann-Hollweg leichtfertig in die Hände der Militärs begeben, sagt Krumeich. Der berühmte Schlieffen-Plan ging ja so: Erst schnell Frankreich besiegen und dann gegen Russland – noch ehe der östliche Nachbar selbst mobil war. Da konnte man nicht warten.
Obwohl das deutsche, von Fehleinschätzungen geprägte Pokern sehr zum Krieg beigetragen hat, sahen sich doch Regierende und Volk in Deutschland, wie alle Nachbarn auch, in einer Verteidigungsposition – auch das gäbe ein gutes Thema für eine historische Habilitation ab, meint der Professor: Ebenfalls noch nicht zureichend beschrieben. Wegen dieser Vorstellung seien pazifistische Proteste bei Kriegsbeginn zusammengebrochen. Die viel zitierte nationale Begeisterung hält Krumeich für Übertreibung: Man zog bereitwillig, pflichtbewusst in den »Verteidigungskrieg«. Das ja. Und Weihnachten würde man zu Hause sein.
Alle gingen von einem kurzen Waffengang aus, modernisiert, aber doch von »vorindustriellem« Charakter, so Krumeich. Für etwas anderes war kein Land vorbereitet. Was tatsächlich kam, ahnte niemand. Natürlich hatten die Deutschen ihren Clausewitz gelesen. Aber, so Krumeich, einen Satz hatten sie nicht beachtet: »Der Krieg ist ein Chamäleon.« Immerhin: Der Schlieffen-Plan habe »um ein Haar« funktioniert. Der schnell vorgetragene Angriff sei schließlich bis 30 Kilometer vor Paris gekommen, »und die Marneschlacht war eine gewinnbare Schlacht. Kontrafaktisch gedacht: Wäre sie ein deutscher Erfolg gewesen, dann wären Moltke und Bethmann-Hollweg Helden gewesen. Dann hätte es die ›Urkatastrophe‹ nie gegeben, wäre der große Weltkrieg ausgefallen. So!«
Als aber der Sieg ausblieb, »da fing der Krieg erst richtig an!« Und geriet außer Kontrolle. Weil er im materialverschlingenden Stellungskampf erstarrte, begann jetzt erst die industrielle Massenfertigung von Waffen: »Die Fließbandfertigung ist in diesem Krieg erfunden worden!« Jetzt erst wurde eine Kriegswirtschaft installiert. Jetzt erst wurde eine mächtige Propagandamaschine angeworfen. Jetzt wurden in rascher Folge jene Waffen in Massen eingeführt – Granaten, Maschinengewehre, Giftgas, Panzer –, die das Gesicht des Krieges bestimmen und noch den Zweiten Weltkrieg prägen sollten. Gerd Krumeich ist überzeugt: Hätten Militärs und Politiker gewusst, was Verdun und was Somme bedeuten würde – sie hätten den Krieg nicht in Kauf genommen. Warum aber haben sie ihn dann nicht entsetzt beendet? Weil die unerwartet notwendige industrielle Hochrüstung eine riesige Menge Geld kostete, so Krumeich, kam ein Kompromissfrieden nicht mehr in Frage. Der Staat wäre sonst bankrott gewesen. Die Ausgaben sollten mit der Siegesbeute finanziert werden. Nicht zuletzt deshalb gewann in Deutschland die Debatte um ausufernde »Kriegsziele« an Fahrt. Kompensationen für Verluste an »Gut und Blut« sollten, neben dem Verteidigungs-Axiom, die Kriegsmoral stärken helfen. Zur Totalisierung des Krieges gehörte ein propagandistischer »Kulturkrieg«, der eine »in Europa nicht gekannte« Unversöhnlichkeit erzeugte.
Über die Höhe der Verluste, sagt Professor Krumeich, habe es in der deutschen Bevölkerung kaum Vorstellungen gegeben. Die blutigen und zerstörerischen Schlachten fanden außerhalb des Landes statt. Dass am Ende zwei Millionen deutsche Soldaten gestorben sein würden, war vorher nicht zu ahnen, weil Verluste nicht bekanntgegeben wurden – es sei eine interessante Frage, ob und ab wann sich Generäle der horrenden Zahlen überhaupt bewusst gewesen seien. Soweit Soldaten von ihren schrecklichen Erlebnissen berichteten, sei es doch immer um sehr begrenzte Abschnitte gegangen, um »Momentaufnahmen«, und auch aus den Todesfällen in vielen Familien sei mit den damaligen Kommunikationsmitteln nicht leicht ein Schluss auf die Gesamtzahl der Opfer zu ziehen gewesen.
Auch deshalb konnte der Krieg so lange weitergehen. Und am Ende waren die Deutschen mehrfach überrascht: Bis weit ins Jahr 1918 hatten sie schließlich nur Siegesmeldungen gehört, und bis zum Schluss war der Krieg »draußen« geblieben; deshalb war die Niederlage unbegreiflich. Und als 1919 die Zahl der millionenfachen Opfer bekannt wurden, da war es für die geschlagenen Deutschen, so Krumeich, kaum zu ertragen, dass sie nach dem Verdikt der Kriegsgegner all dieses Elend allein oder doch hauptsächlich verschuldet haben sollten.
Neben einer Brutalisierung des öffentlichen Lebens und neben der Dolchstoßlegende war es das Thema »Kriegsschuld«, das in Deutschland die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg verzerrte und vergiftete, den Wunsch nach Revision der Versailler Verträge nährte, die Suche nach Sündenböcken für das Unerklärliche an Krieg und Niederlage beförderte.
Die »Dolchstoßlegende«, wonach Verräter das deutsche Heer 1918 um seinen verdienten Sieg gebracht hätten, ist nach 1945 glücklich ad acta gelegt worden. Die Fixierung auf »Kriegsschuld« aber hält sich in Deutschland bis heute, wie die aktuelle »Clarkerei« zeigt. Insgesamt ist Gerd Krumeich nicht zufrieden damit, wie das Thema hierzulande behandelt wird: »Unsere Regierung findet keine Worte zu diesem Krieg.« Auch stört ihn, dass der Erste medial immer wieder zum bloßen Präludium des Zweiten Weltkriegs gerinnt: Adolf Hitler in der jubelnden Menge am Münchner Odeonsplatz (nach Krumeichs Auffassung übrigens eine Fälschung), dann ein kurzer Stummfilm: zu schnell laufende Soldaten mit Pickelhauben – nun aber zum eigentlichen Thema: »Hitler und …«
Natürlich ist der Erste Weltkrieg lange her, ist das Quellenmaterial für lebendige Überlieferung dünner, sind die Abläufe verstörend schwer nachzuvollziehen. Doch, so Gerd Krumeich, »die Menschen damals gehörten schon zu unserer Welt, das war nicht Mittelalter, sie sind uns doch nicht so fremd.« Es sei durchaus möglich, die Geschichte des Ersten Weltkriegs über Leben und Mentalitäten der Zeitgenossen zu erzählen. Insofern findet Krumeich erfreulich, dass es der Landschaftsverband Rheinland unternommen hat, mit dem Projekt »1914 – mitten in Europa« lokale Initiativen zu sammeln und auf diese Weise über das Jahr 2014 hin verschiedene Aspekte des Krieges zu beleuchten. Der Professor selbst hat soeben ein weiteres Buch zu seinem Lebensthema vorgelegt: »Juli 1914 – eine Bilanz« beleuchtet auf knappem Raum noch einmal jene »unglaublichen 33 Tage« zwischen dem Attentat in Sarajevo und der deutschen Kriegserklärung.
Insgesamt elf Ausstellungen des Landschaftsverbandes Rheinland in Bonn, Brühl, Duisburg, Essen u.a. Orten befassen sich das ganze Jahr 2014 über mit der Zeit des Ersten Weltkriegs, beleuchten Kunst und Kultur, Technik, Konsum, Psychologie um 1914. Kunstmuseen in Hagen, Mülheim, Wuppertal tragen das Ihre bei. Aber auch das Lippische Landesmuseum Detmold erinnert (bis 2. März 2014): mit Feldpostbriefen aus den Gräben. www.rheinland1914.lvr.de + www.lippisches-landesmuseum.de