Der Schriftsteller Steffen Kopetzky und der Bonner Generalintendant Klaus Weise bilden zum zweiten Mal das künstlerische Leitungsteam der Bonner Biennale, die am 13. Mai beginnt. Wieder gibt es ein spartenübergreifendes Programm mit mehr als 60 Veranstaltungen – außer Sprechtheater Tanz, Oper, Literatur, Musik, Film und Kunst. Thema: Indien. Die Theaterstücke werden in den Originalsprachen zu sehen sein, mit Übertiteln oder Simultanübersetzungen.
Interview: Dina Netz
K.WEST: Ihr Kollege als künstlerischer Leiter, Klaus Weise, hat beim letzten Mal gesagt, ihn schrecke die Frage, womit man das damalige Biennale- Thema New York noch toppen könnte. Inwiefern kann Indien nun New York überbieten?
KOPETZKY: Mittlerweile betrachten wir Indien als ein viel umfassenderes und spannenderes Thema. Die Herausforderungen, eine Stadt zu porträtieren, sind recht überschaubar im Vergleich zur Herausforderung, eine ganze Kultursphäre mit so einem kleinen Festival zu fassen. Von daher ist New York nicht getoppt, sondern Indien ist ein ganz anderes Projekt.
K.WEST: Sie deuten es schon an: Das indische Theater ist äußerst verschiedenartig, je nach Region und Tradition. Haben Sie versucht, einen Querschnitt einzuladen?
KOPETZKY: Wir konnten nur Dinge entdecken, die in der Zeit zu sehen waren, zu der wir gereist sind, und waren deshalb ein bisschen auf den Glücks- und Reisegott angewiesen. Der Querschnitt ergab sich durch die verschiedenen Regionen. Vollständigkeit haben wir natürlich nicht erreicht, sondern es ist eine subjektive Auswahl, die aber sowohl durch die Zeiten, also von ganz traditionellen bis hin zu ganz modernen Produktionen, als auch geografisch Indien von Süd nach Nord und Ost nach West abschreitet.
K.WEST: Wenn Sie sich vom Reisegott haben leiten lassen, bedeutet das, dass Sie vor allem Theater aus den Metropolen eingeladen haben?
KOPETZKY: Nicht unbedingt. Natürlich sind die Metropolen die Aufenthaltsorte ganz vieler Künstler. Es gibt aber auch eine starke Tradition von Theatergruppen, die sich familiengleich auf dem Land aufhalten.Da wäre zum Beispiel die Gruppe Adishakti, die aus der Nähe von Pondicherry kommt. Das liegt an der Ostküste Indiens, und Adishakti haben da vor ungefähr zehn Jahren einen Ashram begründet, also ein Stück Land erworben, bepflanzt und bebaut. Dort wohnen sie als Lebens- und Arbeitsgemeinschaft eng beieinander – und unternehmen Tourneen. Das Leben auf dem Land ist für diese Gruppen ganz wichtig, weil es dort den Freiraum gibt, den man in der Stadt nur schwer findet.
K.WEST: Viele indische Theateraufführungen sind in ihrem Heimatland Straßentheater. Gilt das auch für die, die Sie nach Bonn eingeladen haben, und kann man dieser Form hier gerecht werden?
KOPETZKY: Die traditionellen Formen in Indien sind ein stark an die Commedia dell’Arte erinnerndes gauklereskes Straßen- oder Puppentheater.Das haben wir bei der Biennale nicht. Wir sind aber mit einer Produktion dabei, die stark diese Volkstheatertradition aufgreift: »Agra Basar«. Das spielt Anfang des 19. Jahrhunderts in der Stadt Agra auf dem Markt. Es ist eine Produktion aus den frühen 50er Jahren von Habib Tanvir, die hat Elemente des Volks-, des Straßentheaters aufgegriffen, aber eben auf eine klassische Bühne gesetzt.
K.WEST: Theater gibt es in Indien wahrscheinlich seit mehr als 1000 Jahren.Abgesehen vom Straßentheater, welche Rolle spielen die Traditionen und die alten Stoffe noch?
KOPETZKY: Für einen Europäer, der aus einer Geschichte voller Umbrüche, Reformen und Revolutionen kommt, ist es verblüffend, auf die lebendige indische Kulturtradition zu stoßen. Die uralten Stoffe der Mythen des Mahabharata und verschiedener anderer Epen Indiens sind seit Tausenden von Jahren lebendig und tatsächlich immer noch wichtig als Ideengeber. Es ist erstaunlich, wie sehr sich viele Inder, einfache und gebildete Leute, mit den Figuren aus diesen Epen beschäftigen.
Sie befassen sich mit deren seelischen Konflikten, die letztlich immer um so etwas wie eine innere Verfassung kreisen, um ein Wissen um Gut und Böse, um eine Einsicht in das Wesen des Lebens und des Guten. Entsprechend häufig schlagen sich diese Konflikte auch auf den Theaterbühnen nieder. Wir haben einige Produktionen, die sich direkt mit diesen Stoffen beschäftigen. Adishakti eben mit einer Solo- Performance mit Live-Musik, die die Geschichte von Arjuna erzählt, dem Haupthelden des Mahabharata. Das ist so etwas wie ein indischer Achill, ein großer Kämpfer, der, bevor die Schlacht beginnt, zweifelt, ob er tatsächlich gegen seine Verwandten zur Waffe greifen soll, und der vom Gott Krischna in einem langen Lehrgedicht über das Wesen von Gut und Böse aufgeklärt wird. In »Mahabharata Project« aus Delhi geht es auch um einen Helden im Augenblick seines Todes, vor dessen innerem Auge sein Leben noch mal abläuft. Das ist eine unheimlich düstere, dämonisch-dunkle Produktion, die von dieser indischen Grundsehnsucht geprägt ist zu fragen: Wie verhalte ich mich richtig?
K.WEST: Das klingt nach sehr innerlichen, psychologischen Stoffen. Ich nahm an, in Indien, diesem Land der Kasten und der wahnsinnigen gesellschaftlichen Gegensätze, spielten soziale Themen eine große Rolle?
KOPETZKY: Der Knackpunkt ist, dass man das nicht wirklich trennen kann. Die Frage nach der Verantwortung für das eigene Leben und die Frage, wie die Gesellschaft im Ganzen mit ihren Brüchen und Verwerfungen umgeht, prägen die Gegenwart Indiens stark. Seit der ökonomischen Öffnung gibt es eine rasant wachsende Mittelschicht in Indien, schätzungsweise 300 Millionen Menschen, die es sich leisten können, einen konsumorientierten, der persönlichen Entwicklung verschriebenen Lebensweg zu gehen und eine Idee von Individualität zu verkörpern, die bis dato in Indien gänzlich unbekannt war. Es war eigentlich das Ideal, in der Gesellschaft an der Position auszuharren, wo man war – egal wie schlimm das Schicksal war, das einen getroffen hatte. Mit diesem Auftauchen neuer Lebensideale gerät das ganze Gesellschaftsschema Indiens unter Druck. Und der Einzelne sucht sehr stark nach Handlungsanweisungen und Ideen für sein Leben und nach seinem Platz.
K.WEST: Indisches Theater speist sich seit jeher aus vielen Quellen: altgriechisches, elisabethanisches und vor allem Brechts Theater vermischen sich mit traditionellen indischen Darstellungsformen und Stoffen; das indische Theater war also immer schon stark europäisch beeinflusst, ohne seine Wurzeln zu vergessen. Führt die starke ökonomische Orientierung nach Westen dazu, dass auch in der Kunst westliche Ideen stärker resorbiert werden?
KOPETZKY: Ich habe eher den Eindruck gewonnen, dass sich eine stärkere Hinwendung zur Tradition abzeichnet. Die Wahrnehmung der drastischen Veränderungen in der Ökonomie und der Veränderungen, die das wiederum im sozialen Leben auslöst, hat eher zu einem Drang geführt, sich der Wurzeln noch stärker zu versichern als bislang. Das kann man zum Beispiel daran sehen, dass sich die Familien der zahlreichen Königshäuser Indiens wieder zu Wort melden. Offiziell ist der Adel abgeschafft, es gibt keine Radschahs und keine Fürstenhäuser mehr. Trotzdem tauchen sie auf den Visitenkarten und Briefbögen allerorten wieder auf. Auch progressive Gruppen scheinen sehr stark nach einer Kultur auf Basis der Traditionen zu suchen. Die Inder begreifen ihre Wurzeln gerade als ihre große Stärke.
K.WEST: Bisher galt das Theater in Indien als eine Domäne der Elite – ändert sich daran durch die aktuellen gesellschaftlichen Umbrüche etwas?
KOPETZKY: Die neuen Medien sind ganz stark Teil dieser sozialen Entdeckungsbewegung, natürlich vor allem der Film. Das Kino ist ganz klar die wichtigste Kunstform, Indien hat die größte Filmindustrie der Welt. Das Kino spielt als Traumpalast eine große Rolle im Leben der Inder, man will für ein paar Stunden dem Elend des Lebens enthoben sein. Deswegen stehen mitten im Slum die allerneuesten, riesigen Filmpaläste, die amerikanischen Kinos in nichts nachstehen. Daneben gibt’s aber auch das Bedürfnis, die soziale Realität und die Umbrüche zu dokumentieren, und wir haben deshalb neben unserer Bollywood- Reihe auch eine Dokumentarfilm-Reihe im Biennale-Programm. Das Theater selbst ist dagegen immer noch eine sehr elitäre Form.
K.WEST: Hätte es sich beim Thema Indien nicht angeboten, einen noch stärkeren Akzent auf Tanztheater zu legen? Tanz ist in Indien als Bühnenkunst viel etablierter als das Sprechtheater.
KOPETZKY: Das ist richtig, nur sind wir ein Theaterfestival, und da liegen auch unsere Kompetenzen. Auch sind unsere Bühnen Theaterbühnen.Wir haben dem Tanz ohnehin relativ großen Raum gewährt, es gibt sehr paradigmatische Aufführungen zu sehen: Wir haben eine ganz klassische Produktion aus Chennai zu Gast in der »Brotfabrik«, die Kalakshetra Foundation. Samudra dagegen bezaubern durch eine Mischung aus moderner und ganz traditioneller, kampfkunstartiger Tanztechnik.
K.WEST: Natürlich hebt man als Festivalleiter ungern einzelne Produktionen heraus – geben Sie trotzdem preis, ob irgendetwas aus dem Biennale- Programm Sie besonders angesprochen hat?
KOPETZKY: Mich persönlich hat die schon erwähnte Produktion »Brhannala «, sehr berührt, wo es um Arjuna in einem Augenblick der Verzauberung geht, Shiva hat ihn für zehn Jahre in eine Frau verwandelt.Das ist eine Solo-Performance eines unglaublich guten Schauspielers, der sich während des Stücks in zahllose andere Figuren verwandelt.
Dieses Ringen des Helden um seine Verfassung hat mich als »halbjungen « Mann sehr berührt, weil es um Fragen geht, die mich auch beschäftigen: den richtigen Weg einzuschlagen, die zweite Lebenshälfte moralisch gestärkt anzugehen. Aber auch die Produktion »Pune Highway« aus Bombay, ein Roadmovie mit brillanten Schauspielern, finde ich toll, weil sie die mafiöse, korrupte, gefährliche Seite Indiens schildert. Außerdem kommt einer der wichtigsten jungen indischen Regisseure, Roysten Abel von der Indian Shakespeare Company. Sein »Othello« ist wirklich meisterhaft, mittlerweile auch verfilmt und läuft gerade in den deutschen Kinos. Es ist ein Stück im Stück, wo eine Gruppe, die Shakespeare spielen will, selbst Thema wird und sich das Drama verdoppelt in den Eifersüchteleien und den Aggressionen der Akteure. //
13. bis 21. Mai 2006. Tel.: 0228/77 80 08. http://biennalebonn.bgp.de