Der Dokumentarist David Attenborough kommt beim Frauenfilmfestival unerwartet zu Ehren. Anders als sein Regie-Bruder Sir Richard, der »Gandhi«-Regisseur, hat Sir David vielfach ausgezeichnete Tierfilme im Auftrag der BBC gedreht und sich als Naturforscher biologischen Themen verschrieben.
Eine Griechin verstümmelt seinen Namen phonetisch zu »Attenberg« – so heißt auch Athina Rachel Tsangaris Film. Dessen Hauptfigur, die 23-jährige Marina (Ariane Labed), betrachtet sich, ihren sterbenden Vater, ihren ersten Liebhaber, ihre sexuell erfahrene Freundin Bella, wie Sir David seine Gorillas oder Seevögel: befremdliche Forschungsgegenstände der humanen Fauna, an denen sie sich selbst austestet. Der Vater qualifiziert sich mitleidlos realistisch als lebenden Leichnam und bestimmt, dass sein Körper verbrannt und seine Asche verstreut werden soll. Abschätzig sagt er »Wir Säugetiere« mit Blick auf Paarungsverhalten und soziale Entwicklung der Spezies. Kein Gott, kein Glaube, keine Perspektive. »Vom Schafhirten zu den Bulldozern der Industrienation in die kleinbürgerliche Hysterie«, charakterisiert der todkranke Architekt den abschüssigen Weg seines Heimatlandes.
Das formal streng komponierte Porträt des griechischen Patienten geht Hand in Hand mit dem parallel ausgerichteten pathologischen Psychogramm Marinas, die – suizidal gefährdet, lust- und antriebslos – in ihrer aus der Normalität driftenden Isolation einer Figur von Polanski gleicht. Befund: Ekel. Die Dialoge springen wie beim Pingpong-Match, die Bilder stehen still und starr: ein europäisches Mahnmal.
Die Krise ist das Thema des vorzüglichen Wettbewerbs-Parcours 2011: Sie wird individuell dingfest gemacht, meint aber immer das Ganze. Beklemmende Studien, beunruhigende Begegnungen, düstere Analysen von affektiver Kälte.
Eine andere junge Frau besichtigt eine Wohnung in Brüssel. Sie mietet die schönen hellen, sparsam eingerichteten Räume. Auf dem Rand des Bettes sitzt sie wie einer der namenlosen Menschen in den malerischen Zimmern des Edward Hopper. Dann sieht man sie in einem anderen Haus, sieht sie als liebevolle Mutter eines kleinen Sohnes und als Ehefrau, die mit ihrem Mann Max leidenschaftlich schläft.
Charlotte führt ein Doppelleben. Die Berliner Ärztin und Wissenschaftlerin, ausgestattet mit nüchternem Verstand und kühlem Appeal, holt sich Männer in das möblierte Apartment, um mit ihnen Sex zu haben. Sie findet sie als Patienten in ihrem Institut: alte, dicke, hässliche Männer, denen sie sich hingibt.
Charlotte ist eine Schwester von Buñuels »Belle de Jour«, und dass die burschikos pa-tente Sandra Hüller die Rolle spielt, erscheint bemerkenswert. Sie verwandelt sich nicht gerade in die marmorne Deneuve, aber Intensität, undurchdringliche Ruhe und bedrohliche Kontrolliertheit lassen an Isabelle Huppert bei Chabrol oder Haneke denken. Die Kamera beobachtet ihre Testperson objektiv, ohne sichtbare Anteilnahme und Regung, zeigt sie in klar ausgeleuchteten Räumen, die sie rahmen und auch umstellen.
In den drei klinisch abstrahierenden, aufs Nötigste konzentrierten Kapiteln protokolliert die Niederländerin Nanouk Leopold den »Fall« und nennt ihren Irritation auslösenden Film »Brownian Movement« (Brownsche Bewegung), abgeleitet vom physikalischen Vorgang einer permanenten Zufallsbewegung von Teilchen in Flüssigkeiten und Gasen. Wie ein solches Molekül treibt es Charlotte um – hin zu ihrem wie ein Experiment absolvierten Triebverhalten. Nicht nachvollziehbar, nicht zu begründen. Als Charlotte einmal außerhalb ihres Arrangements mit den anonymen Partnern woanders einen der Männer wieder trifft, rastet sie aus. Eine Übertretung darf es nicht geben.
Ein Phänomen auch für sich selbst, begibt sich Charlotte in psychologische Behandlung, muss sich einem Disziplinarverfahren stellen und sucht mit Max nach einer rationalen Erklärung. Am Ende geht sie mit ihrer Familie nach Indien, in Erwartung eines zweiten Kindes. Das Rätsel bleibt.
Dass Nanouk Leopolds Stil und Methode an die feministischen Heroinen Chantal Akerman und Agnès Varda erinnert, wurde mehr-fach bemerkt, schon als ihr außergewöhnlicher Film (Kinostart 30. Juni) auf dem Festival von Toronto und der Berlinale lief. Er lässt sich so wenig vergessen wie Vardas »Le bonheur« oder Akermans »La Chambre« und »Toute une Nuit«.
»Allein seid ihr auf der Welt, und Nacht ist über der Einsamkeit einer unendlichen Fläche«, dichtet Jean Genet in seinem »Querelle«, dem Roman einer erotischen Matrosen-Phantasie. Unter Männern auf See spielt Marion Hänsels exquisiter »Noir Océan«, der das eben zitierte Empfindungs-Klima aufnimmt. Auf einem Marine-Schulschiff im Pazifik schließen sich gegen den stumpfen Alltag von Fahnenappell, Nachtwachen, Drill, Langeweile und rüden Scherzen der 18-jährige Massina (Nicolas Ro-bin), der gleichaltrige, aber in sich gefestigtere, sensible Moriaty (Adrien Jolivet) zusammen sowie der robuste Da Maggio (Romain David). Dass Moriaty im Prolog der Geschichte als Knabe sich selbst eine Mutprobe auferlegt, nämlich einen Fluss zu durchqueren und seine Angst zu bestehen, bleibt der einzig konkrete biografische Hinweis. Er habe gespürt, wie das Wagnis für immer etwas in ihm verändert habe, erzählt er seinem Freund Massina. Und erschließt ihm damit das »Heiligtum der Gefühle«, wie Philippe Ariès die Kindheit nennt.
Die sanfte Schwermut und elegische Stimmung kollidieren mit dem Ziel der Unternehmung: den französischen Atomtests auf Mururoa 1972. Die fragile, gläserne, diskrete, rein subjektive Atmosphäre, verdichtet auf die Enge des Ortes, macht »Noir Océan« zu einem der schönsten Beispiele eines Genres, das den schmalen Grat zum Erwachsenwerden beschreitet, um vom Verlust der Unschuld, der Rollenbestimmung des Mannseins und eines gemeinsamen exklusiven Sich-Aussonderns von der Welt und ihrer latenten Gewalt und Feindschaft zu erzählen.
Zum Säuger Mensch gehört die Raubtiernatur. Sebastián (Gael Garcia Bernal) dreht in Boli-vien einen Film über Christoph Columbus und castet für die Statisterie Indios. Der idealistisch gesonnene Regisseur, dem der Produzent auf die Finger guckt, will alles anders machen: kein Heldenepos, sondern die historische Wahrheit über Gier und Ausbeutung; er will den Mythos der Entdeckung demontieren. Trotzdem gilt für ihn »Der Film kommt immer an erster Stelle«, womit Sebastián in gewisser Weise in die Spur der spanischen Eroberer tritt. 500 Jahre später.
Während die Crew in ihrer Selbstbezogenheit debattiert über Kirche, König, Kolonisation und Kommerz, müssen sich die Indios einer konkreten Okkupation erwehren. Es ist die Zeit des »Wasserkrieges« um das Jahr 2000, als die Regierung an Konzern-Multis die Rechte am blauen Element verkaufen wollte, um den Staatshaushalt zu sanieren. Die Bevölkerung leistet Widerstand gegen die Absicht, Quellen, Seen, Flüsse und »Even the Rain« (so die Übersetzung des Originaltitels »Tambien la Iluvia«) zu kapitalisieren.
Geschichte wiederholt sich und ändert dabei ihre Gestalt. Die spanische Regisseurin Iciar Bollaín konstruiert in Mehrfach-Überblen-dung, Schichtung und sich spiegelnder Reflexion ein intelligentes Vexierbild, in dem das Drama eines Landes und Kontinents sichtbar wird. Wobei ihr kritischer Blick das eigene Metier deutlich geschärft einbezieht. Der engagierte Filmemacher, der aufklären, politisch wirken und Engagement zeigen will, folgt zuletzt doch nur der eigenen Besessenheit, stillt seinen Ehrgeiz, verhält sich egoman. Ein weiterer Ausbeuter. Willkommen in der Neuen Welt.
Internationales Frauenfilmfestival; 12. bis 17. April 2011 in Dortmund; Infos: 0231/5025162.
Zum Wettbewerb (Siegerprämie: 25.000 Euro) gehören noch die italienische Mutterschafts-Studie »Lo Spazio Bianco« und die slowakische Dorf-Komödie »Dom« (Das Haus), das eindringliche argentinische Drama »La Mosca en la Cenzia« über zwei zur Prostitution gezwungene Mädchen vom Land von der jung verstorbenen Regisseurin Gabriela David; und das Fitzen-Roadmovie »Richting West« der Niederländerin Nicole van Kilsdonk: Kalendarium des Alltags einer alleinerziehenden Mutter in Rotterdam, einfach und melancholisch wie ein Chanson von Barbara oder Carla Bruni; außerdem gibt es die Dokumentarfilm-Reihe »Was tun« mit 50 historischen und aktuellen Filmen zu Aktivismus und Widerstand gegen Umweltzerstörung und andere politische Reizthemen; sowie Konzerte, Vorträ-ge, Workshops und Seminare.