Der Ausblick auf die Zukunft des klassischen Konzertbetriebs war ein einziger Albtraum. Großflächig verklebt auf riesigen Werbewänden. Zu sehen waren ein Schallplattenspieler und zwei altersfleckige, mit Armbändchen und ähnlichem Szenezeug jugendlich ausstaffierte Hände. Hände, die sich an etwas versuchen, was biologisch junge Menschen, die Sonntagmorgens nicht zu Konzertmatineen gehen, sondern gerade vom Tanzen nach Hause kommen, »scratchen« nennen. Mit diesem Spuk sollte im Auftrag des Bundesfinanzministeriums die Riesterrente beworben werden. Was den Konzerthäusern dereinst durchaus zugute kommen könnte. Schließlich gehört die Altersarmut zu den natürlichen Feinden der Tonhallen, die die FAZ schon vor drei Jahren zunehmender »Vergruftungsgefahr« ausgesetzt sah. Auch der bangemachende Slogan »Du wirst schneller älter, als Du denkst«, der auf den Plakaten zu lesen war, sollte Philharmonie-Intendanten eher auf steigende Besucherzahlen hoffen lassen, als sie um den Schlaf bringen. Denn bislang galt: Je mehr Menschen in die breite Spitze der umgekehrten Alterspyramide hineinreifen, desto größer wird das Gedränge an den Konzertkassen sein. Kein Grund zur Sorge also, oder? Was schließlich haben Menschen, die auch im fortgeschrittenen Alter ihre reifen Finger nicht von der DJ-Konsole lassen können, mit klassischer Musik zu tun? Gar nichts – und genau das ist das Problem. Jugendliche, so konnte lange Zeit mit guten Gründen angenommen werden, besinnen sich mit zunehmendem Alter auf den vermeintlichen Ernst der Kunst. Natürlich nicht alle, aber für den Betrieb ausreichend viele. Wie politische Fundamentaloppositionelle ins Außenministerium, wechseln sie, nachdem sie sich nur lange genug mit den heiteren Formen der Unterhaltung beschäftigt haben, ins kulturelle Establishment. Doch seit einiger Zeit sieht es nun so aus, als sollte man besser nicht mehr damit rechnen, dass das ohnehin nicht gerade zahlreich nachwachsende Publikum der Zukunft sich irgendwann auch automatisch in Konzerthäusern einfinden wird. Und es ist nicht nur die klassische Musik, die für Jugendliche und junge Erwachsene immer weniger attraktiv zu sein scheint. Hält die Tendenz an, können auch viele Theater irgendwann ihre Spielstätten auf Kammerspielgröße zurückbauen, und um die Oper scheint es desgleichen nicht zum Besten zu stehen. Mit zunehmendem Medien- und Freizeitangebot ist eine Rückbesinnung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf die »klassische Kultur« nicht mehr selbstverständlich zu erwarten. Zu diesem Ergebnis kommt Susanne Keuchel vom Bonner Zentrum für Kulturforschung, die 2004 mitverantwortlich für das »1. Jugend-KulturBarometer« zeichnete (siehe auch nachfolgendes Gespräch). Basis für diese These ist eine im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung durchgeführte repräsentative Befragung von 14- bis 25-Jährigen nach ihren kulturellen Interessen. Zwar fehlt es für eine umfassende Analyse des Freizeitverhaltens dieser Zielgruppe in der Vergangenheit an vergleichbarem Datenmaterial. Doch die wenigen Zahlen, auf die sich zurückgreifen lässt, sind in der Tat eindeutig. Im Vergleich mit 1993/94 zeigt sich, dass die Gruppe derjenigen unter den Jugendlichen, die im der Befragung vorangehenden Jahr mindestens einmal ein Klassikkonzert oder eine ähnliche Musikveranstaltung besucht haben, um mehr als 10 Prozent zurückgegangen ist. Zum Trend wird diese Diagnose allerdings erst durch ein Blick auf die ältere Bevölkerung: Während der Anteil der Konzertgänger unter den über 50Jährigen relativ stabil geblieben ist, beginnt schon bei den mittleren Generationen das Publikum wegzubrechen. Bezogen allein auf das Klassikpublikum, lässt das, einer Schätzung von 2005 nach, für die Zukunft einen Publikumsrückgang um etwa 36 Prozent befürchten. Doch ist die Zeit für Verlustmeldungen noch nicht reif. Vielleicht helfen ja noch Kontaktanzeigen. »Ich bin sehr vielseitig, aufgeschlossen und für unvergessliche Momente in einer besonderen Atmosphäre bekannt.« Derartige Inserate schaltet neuerdings die Düsseldorfer Tonhalle in Stadtmagazinen. So findet man sich gleich neben dem ›liebevollen Träumer‹, dem eine Seelenverwandte fehlt und dem ›hübschen, natürlichen Engel‹ wieder, der einen sympathischen Mann mit Kinderwunsch sucht. Durch diese ungewöhnliche Kampagne soll versucht werden, die nicht nur emotional zunehmend Bindungslosen auf die Reize des Hauses aufmerksam zu machen. Denn die ehedem beständig geneigte Kundschaft will, je jünger sie ist, heute permanent umworben werben. Sie besteht zu immer größeren Anteilen aus »Kulturflaneuren«. Aus Menschen, die ihren gesteigerten Individualisierungsbedarf nicht nur dann ausleben möchten, wenn sie sich eine neue Jeans kaufen gehen, sondern auch auf dem Feld des Kunst-Konsums. Der »Kulturflaneur« entscheidet sich kurzfristig, ob er lieber ins Kino, in die Oper oder doch ins Musical geht – und ersetzt so den traditionellen Abonnenten, der auch die neunzehnte Neuausdeutung der »Emilia Galotti« mit gebotenem Gleichmut und großer Leidensfähigkeit wacker über sich ergehen lässt. Doch derartige Verhaltensweisen müssen ja nicht zwingend Anzeichen für den wieder um ein paar Jahre näher gerückten Untergang des kulturellen Abendlandes sein, wie die Lobbyisten der Kunst uns gerne weismachen würden. Bleibt doch erst einmal nur festzustellen, dass sich dieser neue Zuschauertypus die Entscheidung, wo und wie er seine Freizeit verbringt, offensichtlich nicht leicht macht und immer wieder neu zu treffen gewillt ist. Umgekehrt bedeutet das für die Kulturinstitutionen jetzt und in Zukunft, dass man der Kundschaft ein paar gute Gründe als Endscheidungshilfe an die Hand geben sollte. Nur: welche? Am einfachsten, sagt Udo Flaskamp von der Düsseldorfer Tonhalle, sei es, mit Werbung auf die Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu reagieren, um das Produkt »klassische Musik« bei ihnen präsent zu halten. »Sich inhaltlich anzupassen, ist erheblich schwieriger.« Neben den Kontaktanzeigen hat die Tonhalle in den letzten Jahren eine Reihe von Marketing-Maßnahmen ergriffen, die diese Behauptung belegen können. Werblich gesehen hat das Haus mittlerweile ein junges Gesicht und eine tätowierte Schulter. Beide gehören einer Frau, die mit knallrot geschminkten Lippen von den Plakatwänden der Stadt herunter für das Konzerthaus Reklame macht. Doch mit solch jugendlichen Kampagnen allein lässt sich der Altersdurchschnitt nicht senken. Ansätzen müsste man, so weiß Udo Flaskamp, bei den traditionellen Konzertformen: »Bisher ist es so, dass zwei Stunden lang ernst und angestrengt Musik gespielt wird.« Doch die Jugendlichen wüssten schlichtweg nicht mehr, wie sie sich während eines Konzerts zu verhalten hätten, wann geklatscht wird, wann sie aufstehen müssen. Sie fühlen sich unwohl, weil sie sich mit einem Publikum konfrontiert sähen, das die Musik mit einer verhaltenen Körpersprache genieße. Da »Lösungen zu finden setzt voraus, dass man auch entsprechende Musiker hat, die eine Bereitschaft zeigen, diese Formen aufzubrechen.« Genau das aber scheint keineswegs einmütig die Überzeugung aller Beteiligten zu sein, um deren Zukunft es ja auch geht. Spricht Flaskamp doch davon, dass diese Fragen »verstärkt intern« in Konzerthäusern und Orchestern angesprochen werden müssten. Dennoch wird auch inhaltlich versucht, die junge Kundschaft zunehmend dort abzuholen, wo sie sich heute befindet, nämlich ganz woanders. Seit dieser Saison hat die Tonhalle unter dem Label »Tonfrequenz« avancierte zeitgenössische, zumeist elektronische Popmusik im Programm, auf der das Etikett »U« eher schlecht klebt. Zumindest, wenn man damit automatisch auch Begriffe wie »kommerziell« und »massenkompatibel« assoziiert. Mit dieser Reihe könnte sich das Düsseldorfer Konzerthaus ein Publikum erschließen, das sich im Mainstream der Popkultur nicht recht wohlfühlt. Liegt ein Schulterschluss mit der vom Aussterben bedrohten Spezies der Konzerthausbesucher da doch irgendwie nahe. Quasi als Handreichung von Minderheit zu Minderheit über den künstlichen, einst in kulturkritischer Absicht ausgehobenen Graben zwischen E und U hinweg. Einen ähnlichen Schritt, wenngleich musikalisch weitaus populärer, ist auch das Dortmunder Konzerthaus gegangen, wo es neuerdings Pop im Abo gibt. Abgesehen von der Forcierung musikpädagogischer Angebote, bleibt diesen Häusern auch kaum anderes übrig, weil eine stärkere zeitgenössische Ausrichtung der Klassik ihre Nachwuchsprobleme kaum beheben dürfte. Während Theater das aus der Jugendmode Geratene mit popkulturellen Zitaten auf die Bühne liften können, oder sich mit Stücken etwa von Falk Richter oder Kathrin Röggla auf das Lebensgefühl des jüngeren Publikums einstellen, dürfte es ein aussichtsloses Unterfangen sein, den Nicht-Besucher mit Neuer Musik an den Konzertbetrieb heranführen zu wollen. Natürlich ließe sich an dieser Stelle leicht die Frage stellen, ob die hochsubventionierten Häuser mit diesem Angebot wirklich ihrem Auftrag gerecht werden. Doch ist die schon deshalb überflüssig, weil diejenigen, die diese Frage stellen, die Antwort immer schon vorher kennen. Zweifelhaft sind die Appelle der »hochkulturellen« Besitzstandswahrer aber auch, weil sie Belastungsproben im Praxistest immer weniger standhalten. Denn in dem Maße, wie die klassische Musik gesellschaftlich an Bedeutung einbüßt, gelangt auch der Einfluss ihrer Pädagogen über kurz oder lang an Grenzen. Eine Generalüberholung der Angebotspalette lässt sich auch bei den Theatern beobachten. Auch dort wird auf erweiternde Diversifizierung gesetzt. So konkurrieren immer mehr Häuser mit kommerziellen Partymachern um das immer knapper werdende Gut Jugend. Plötzlich finden sich neben Nora, Stella und Richard auch Herren wie Maik Murano oder DJ Dash auf den Leporellos wieder, neben zahlreichen Comedy-Formaten. Idealerweise, so die Hoffnung, kann das dazu beitragen, Schwellenängste abzubauen. Denn obwohl die »klassische« Kunst mit dem sozialen Mehrwert auch ihren Nimbus zunehmend einbüsst, scheint der Publikumsnachwuchs nach wie vor ein seltsam einschüchterndes, wenn nicht abschreckendes Bild vom bildungsbürgerlich geprägten Ritus »Theaterbesuch« zu haben. Nur sehr schwer korrigieren lassen sich diese Vorstellungen auch deshalb, weil sie nicht auf Erfahrung beruhen, sondern vom schlechten Leumund eingeflüstert werden. Deshalb wird in den Dramaturgieetagen durchaus als Erfolg gewertet, wenn sich das Stadttheater durch Clubnächte der Problemgruppe bekannt macht. Ziel derartiger Veranstaltungen ist eben nicht, durch Mitnahmeeffekte das Parkett mit jungen Gesichtern aufzufrischen. Viel mehr gehe es darum, das »heilige Theater« als gefährlichen Ort zu neutralisieren, sagt Thomas Laue, der als Chefdramaturg am Grillo-Theater wesentlich dazu beigetragen hat, dass sich die Essener Jugend auch wieder im Schauspielhaus der Stadt blicken lässt. Ebenfalls am Grillo beschäftigt ist mit David Boesch ein Regisseur, dem von der Kritik in durchaus ätzender Absicht attestiert wurde, er mache »Theater für BRAVO-Leser«. Je nach Standpunkt, lässt sich das aber auch als Kompliment verstehen. Tatsächlich scheint der 1978 geborene Boesch auch jene Zielgruppe zu erreichen, die besser verloren zu geben eine vom Deutschen Bühnenverein in Auftrag gegebene Nichtbesucher-Befragung (2003) rät. Dort wird empfohlen, »angesichts knapper Werbebudgets strategisch vor allem die Zielgruppen« anzusprechen, »die tendenziell dem Theater positiver gegenüberstehen.« Dazu gehören natürlich nicht jene überwiegend bildungsfern aufwachsenden Jugendlichen aus dem Problemstadtteil Katernberg, die der Regisseur Nuran Calis in »Homestories« für das Grillo-Theater auf die Bühne gebracht hat. Mit ihren eigenen Geschichten und ihrer Musik. Die Laienschauspieler wurden, so erzählt Thomas Laue, auch hinterher gelegentlich im Grillo gesehen, was zeigt, dass »klassische Kultur« Jugendliche durchaus begeistern kann. Sie muss es nur wollen. Voraussetzung dafür sei allerdings, dass das Theater nicht anfange, Jugendkulturen zu kopieren, sagt Laue. Ganz im Gegenteil müsse es sehr deutlich zeigen, »was das Besondere an dieser Form ist, die Direktheit und die Unmittelbarkeit.« Nicht zuletzt die erfolgreiche Jugendarbeit des Schauspiels Essen zeigt, dass die »klassische Kultur« mehr noch als früher längere Wege wird gehen müssen, um ihr junges Publikum zu erreichen. Bisweilen auch Umwege, die hinaus aus den kulturellen Zentren führen. Nicht allein räumliche, sondern vor allem auch ästhetische. »Die Jugendlichen werden heute ganz anders durch die Medien und das Internet sozialisiert. Deswegen haben sie andere ästhetische Prioritäten«, sagt Bertram Müller, Leiter des Düsseldorfer »tanzhaus nrw«, in dem man mehr als in anderen Häusern die Sehgewohnheiten des Publikumsnachwuchses über die Praxis prägen und verändern kann. »Wenn wir das nicht ernst nehmen, dann fahren wir daran vorbei.« Das klingt nur einfach. Fragt sich doch, ob die Gleise, auf denen der Zug fährt, auch für schnelle Wendemanöver ausgelegt sind. //
Wir danken dem »tanzhaus nrw« für die freundliche Abdruckgenehmigung des Fotos. Das »tanzhaus nrw« ist Träger des Projektes »take-off junger tanz«.www.take-off-junger-tanz.de