Kurz nach dem Angriff der Russen auf die Ukraine finden zwei junge Fotografen in Kiew zueinander: Sebastian Wells (Jahrgang 1996) aus Berlin und Vsevolod Kazarin (Jahrgang 2000), der in einem Außenbezirk der ukrainischen Hauptstadt lebt. Beide treibt dieselbe Frage um. Wie können wir als Künstler und Fotografen auf den Krieg reagieren? Ihre Antwort scheint ungewöhnlich doch überzeugend. Statt Trümmer und Zerstörung, Soldaten und Verletzte, zeigen sie junge Menschen in der Großstadt und gewinnen mit ihrer 32-teiligen Bildserie den Deutschen Friedenspreis für Fotografie.
kultur.west: Vsevolod Kazarin, Sie sind in einem Vorort von Kiew aufgewachsen, leben auch heute noch dort und arbeiten als Künstler und Modefotograf. Und Sie, Sebastian Wells, leben in Berlin und sind im Frühjahr 2022, wenige Wochen nur nach dem Angriff der Russen auf die Ukraine, nach Kiew aufgebrochen. Wie haben Sie beide dort zueinander gefunden?
WELLS: Als Dokumentarfotograf war ich in die Ukraine gereist, um mich mit dem Krieg zu befassen, wusste aber noch nicht, wie ich fotografisch damit umgehen sollte. Nach ein paar Tagen in Kiew habe ich mich dann auf Social Media nach anderen jungen Künstler*innen und Kreativen umgeschaut, mit denen ich mich connecten könnte.
kultur.west: Wie kam es vom Gedankenaustausch zum gemeinsamen Projekt?
WELLS: Wir haben herausgefunden, dass uns ganz ähnliche Fragen und Probleme beschäftigen: Wie können wir als Künstler und Fotografen auf den Krieg reagieren? Wir hatten einen sehr guten Austausch über genau diese Themen und haben dann beschlossen, etwas zusammen zu machen.
kultur.west: Wie können wir auf den Krieg reagieren, das war die Frage. Ihre Antwort: Fotografien junger Menschen in der Stadt. Wie kam es dazu?
KAZARIN: Es hat wohl auch mit meiner Arbeit als Modefotograf zu tun. Ich erinnere mich, dass Sebastian und ich über Mode gesprochen haben. Über die Art und Weise, wie junge Menschen sich präsentieren. Und Sebastian schlug vor, dass wir einfach junge Menschen auf der Straße fotografieren. Schon am Morgen darauf haben wir uns dann getroffen. Es war super, super spontan. Sebastian, korrigiere mich, wenn du es anders siehst.
WELLS: Es war genau, wie Du es beschreibst. Entscheidend für unsere gemeinsame Arbeit scheint mir, dass wir beide beim Porträtieren sehr unterschiedliche Herangehensweisen verfolgen. Ich als Dokumentar-Fotograf und Vsevolod mit seinem Background in der Mode. In den Porträts mischt sich beides, wie ich finde.
kultur.west: Eine Mischung also aus Mode- und Dokumentarfoto? Was genau meinen Sie damit?
WELLS: Auf der einen Seite wirken die Porträtierten sehr sicher, wissen offenbar genau, wie sie auftreten wollen. Die Straße ist fast wie eine Bühne: Die jungen Menschen nehmen eine bestimmte Pose ein, sind selbstbewusst, haben einen starken Ausdruck. Das alles verbindet die Porträts mit der Modefotografie. Andererseits sind die Bilder aber auch sehr dokumentarisch. So haben wir niemanden gebeten, etwas Spezielles anzuziehen. Wir haben die Personen spontan gefragt, ob wir ein Bild machen dürfen. Fotografiert haben wir sie in der Kleidung, die sie an diesem Tag trugen, und meistens auch genau an dem Ort, wo wir sie getroffen haben.
kultur.west: Ihr Weg ist ein eher ungewöhnlicher – es geht um den Krieg in ihrer Bild-Serie, doch zeigen sie keine Zerstörung, keine Trümmer und keine Verletzten. Statt Angst und Schrecken ins Bild zu setzen, schaffen sie eine Bühne für junge Menschen in der Stadt.
KAZARIN: Das ist uns wichtig. Die andere Seite des Krieges zu zeigen. Die Lebensrealität der jungen Menschen, die nicht an der Front sind und ihr normales Leben weiterführen.
WELLS: Wir wollten nicht zeigen, was zerstört und verloren ist. Sondern das, was es zu verteidigen gilt. Dass es ein Land zu verteidigen gilt, die Ukraine. Deshalb haben wir diese Art von Bildern gemacht. Wir wollen die junge Generation beschreiben, die aufgewachsen sind in diesem unabhängigen, freien, demokratischen Land. Ein Land, das es wert ist, verteidigt werden. Das ist unsere Message.
kultur.west: Gibt es eine Geschichte hinter den Bildern? Haben Sie mit den Menschen gesprochen, etwas über ihre Situation ihre Haltung erfahren?
KAZARIN: Nein, wir haben uns nicht länger mit ihnen unterhalten, haben nur erklärt, dass wir an einem Foto-Projekt arbeiten, und Social-Media-Kontakte ausgetauscht.
WELLS: Um die Geschichte geht es uns auch nicht. Wir wollen nicht sagen, wer die Person ist und was sie macht. Wir beschränken uns bewusst. Die Botschaft soll allein über das Bild, über die physische und visuelle Erscheinung der Personen vermittelt werden.
kultur.west: Gibt es ein Porträt, das Sie besonders mögen, ein Lieblingsbild?
WELLS: Mein Lieblingsbild zeigt eine junge Frau, Lena ist ihr Name und sie lehnt gelassen mit dem Rücken an einer Rakete, die in einer der Straßen nahe dem Präsidentenpalast eingeschlagen war. Ganz selbstverständlich erscheint es, auch wenn man sich vor zwei Jahren kaum hätte vorstellen können in Kiew an einer Rakete zu lehnen.
KAZARIN: Ich habe ein anderes Lieblingsbild. Mir gefällt besonders das Porträt der jungen Frau mit dem kleinen Jungen auf dem Arm. Sie zeigt sich als Person, die nicht nur Verantwortung für sich selbst hat, sondern auch Sorge um ihren kleinen Sohn trägt – Marc und Lisa heißen die beiden.
kultur.west: Sie fotografieren zusammen, und außerdem haben Sie gemeinsam ein ukrainisch-deutsches Magazin gegründet.
WELLS: Ja, es trägt den Titel Soлomiya, und die Idee dahinter hängt eng mit unserer Foto-Serie in Kiew zusammen. Wir hatten darüber nachgedacht, wie wir unsere Bilder veröffentlichen, ihre Botschaft verbreiten können. Dazu gab es unterschiedliche Ideen. Überlegt hatten wir zum Beispiel, Poster zu drucken und sie in westeuropäischen Städten zu verteilen. Schließlich kamen wir dann aber darauf, dieses Magazin herauszugeben. Auch weil wir andere Menschen getroffen haben, die dazu einen Beitrag leisten konnten – mit Texten, Kunst oder als Grafik-Designer*innen.
kultur.west: Kürzlich ist bereits eine zweite Ausgabe des Magazins erschienen. Diesmal mit Kunst, Fotografie und Literatur von 15 verschiedenen Künstler*innen. Auch sie sind wieder mit einem Beitrag dabei.
KAZARIN: Ja, wir haben eine zweite Fotoserie gestartet. Wieder geht es um junge Menschen. Nicht in Kiew, sondern jetzt in den besetzten Gebieten im Osten. Zu den Bildern gibt es diesmal auch Interviews. Diese Menschen sind zum zweiten Mal mit dem Krieg konfrontiert, deshalb wollen wir ihnen eine Stimme geben.
kultur.west: Wollen Sie weiter zusammenarbeiten?
WELLS: Ja, wir haben auch schon einige Ideen und Pläne.
Vsevolod Kazarin
…kam 2000 in der Region Luhansk in der Ukraine zur Welt. Aufgewachsen ist er in einem Kiewer Vorort, wo er bis heute lebt. Seit seinem Bachelor-Abschluss in Fotografie an der Kiewer Nationalen Universität für Kultur und Kunst arbeitet Kazarin an künstlerischen, redaktionellen und kommerziellen Projekten.
Sebastian Wells
…ist 1996 in Berlin geboren und auch dort aufgewachsen. Er ist Mitglied des Fotografenkollektivs Ostkreuz und arbeitet als Dokumentarfotograf. Fotografie hat Wells an der Ostkreuzschule in Berlin, der Fachhochschule Bielefeld und der KASK School of Arts in Gent studiert.