TEXT: ANDREJ KLAHN
Den Stadtplan hat er vorsichtshalber mal mitgenommen. Feridun Zaimoglu steuert mit schnellen Schritten auf die Königstraße zu, eine dieser Fußgängerzonen, deren Angebot sich von dem anderer mittel-großer Städte kaum unterscheidet. Saturn, Karstadt, McDonald’s, H&M, Expressbäckereien und Steakhäuser. Eine Shopping-Trasse, die an diesem sommerlichen Vormittag belebt ist und doch leer wirkt. »Ich habe einen schwach ausgeprägten Orientierungssinn«, sagt Zaimoglu. »Aber darüber, dass ich mich verirre, entdecke ich Neues.« An diesem Tag aber geht es darum, Bekanntes wiederzufinden. Schauplätze seines neuen Romans »Ruß«, der in Duisburg spielt. Warum Duisburg? »Ich liebe den deutschen Geruch, die deutsche Geschichte. Es durfte also keine Stadt sein, in der die Leute vor Coolness fast Gesichtslähmung kriegen, aber auch keine Stadt, in der man krampfhaft versucht, die Geschichte, als wäre sie Schmutz, abzureiben.«
Knapp 20 Mal hat Zaimoglu vor Ort recherchiert; mal auf der Durchreise, häufig ist er auch ein paar Tage geblieben. Vertraut sei ihm ge-wesen, was er vorgefunden habe. »Denn ich komme ja aus einer Arbeiterfamilie. Und Arbeiterkultur, ob in München, Köln oder Kiel, ist Arbeiterkultur.« »Arbeiter« ist ein Wort, das Zaimoglu häufig benutzt; und das meint eben immer auch: nicht Bürger. Und: echt.
Zaimoglu schützt seine Augen hinter einer großen schwarzen Sonnenbrille. Vor der Sonne, vielleicht aber auch vor den neugierigen Blicken der Passanten. Er selbst kommt darauf zu sprechen, dass er abgemagert ist. Was daran liege, dass er sich Duisburg in den vergangenen Monaten regelrecht habe erlaufen müssen. Stundenlang herumgelatscht, vom Weg abgekommen, Rast gemacht, total erschöpft. Aber diese Über-müdung bringe einen dann ja dazu, Dinge zu sehen, die man sonst, wenn man frisch aus dem Bett gehüpft sei, nicht sehe. Oder nicht höre: »Wenn man den kleinen Geschichten, die die Menschen hier erzählen, nicht zuhört, läuft man Gefahr, das Ruhrgebiet zu romantisieren.«
»Sparkasse, Deutsche Bank, Vodafone, man hat hier was. Das Kö-Café ›Dobbelstein‹, da kann man wunderbar alte Damen erleben, die einen dann auch ansprechen. Man kann da auch froh werden.« Zaimoglu lacht. Mit Herablassung hat das nichts zu tun. Er selbst lebt in Kiel. In einer Stadt, die, wie Duisburg, diese »wirklich prächtige Stadt«, weder schön, noch hip ist. Das bewahrt einen vor Hochmut. Eher schon belustigt Zaimoglu wohl seine Rolle als Stadtführer für Journalisten. Eigentlich gibt es ja auch kaum blödsinnigere Anliegen, als Romane mit dem Stadtplan zurück in die Realität übersetzen zu wollen. Oder?
Feridun Zaimoglu, der 1964 im anatolischen Bolu geboren wurde und in Deutschland aufgewachsen ist, gehört zu jenen Autoren, die für sich reklamieren, ihr Wissen über die Wirklichkeit nicht aus Büchern, sondern aus dem Leben zu beziehen. Mitte der 1990er Jahre lauschte er türkischstämmigen »Einwandererkinder« ihren Sound ab. »Kanak Sprak« nannte er dieses verkauderwelschte Idiom. »Kanak Sprak« lautet auch der Titel des 1995 erschienen Buches, in dem er diese »Mißtöne vom Rande der Gesellschaft« in Form von halbfiktiven Interviews gesammelt hat. Es begründete Zaimoglus Ruf, ein Autor zu sein, dessen Horizont nicht an der Schreibtischkante aufhört. Ein Schriftsteller, der sich selbst nicht schont und dort hingeht, wo es schon mal ungemütlich werden kann.
Die Bäckerei »Bolten« auf der Königstraße ist nicht unbedingt so ein Ort, aber eben auch kein Literatur-Café. Wer hier unter den Sonnenschirmen sitzt, bleibt nur so lange, bis der Kaffee ausgetrun-ken ist. Ab und an dröhnen schwere Kehrwagen unmittelbar neben den Tischen vorbei. Man spricht dann einfach weiter, ohne sich zu verstehen. Von hier aus hatte Zaimoglu einen guten Blick auf die Aufführung des Alltag: Passanten, behängt mit Einkaufstüten, hasten vorüber; Menschen bringen ihren Tag auf bunten Werbe-Sitzboxen herum, die Unternehmen in der Fußgängerzone aufgestellt haben. In den Randbereichen dieser Wirklichkeit ist man dann plötzlich mitten drin in Zaimoglus neuem Roman: »Die lästigen Kinder. Die Kinder, denen man Schleckeis oder Klatschbrötchen in die Hand drückte. Ein kleines Kind mit kaputter Rassel. Durchgedrehte, sie stromerten. Sie bissen sich fest am Glück der Normalen. Durchgedrehte, sie verstanden nichts. Sie schnappten nach Luft. Sie schluckten hart. Durchgeknallte. Klinische Fälle. Verrückte mit hoher Ansteckungsgefahr«
Unspektakuläre Plätze hat Feridun Zaimoglu in den Monaten der Recherche in Duisburg aufgesucht. Orte, die sich in keinem Reiseführer finden. »Wenn ich weiß, dass acht große Scheiben Hausbrot bei der Bäckerei 1,41 Euro kosten, dann bin ich viel näher dran an meiner Geschichte, als wenn ich weiß, dass in Duisburg irgendwann mal ein Hochofen verloschen ist.«
»Ruß«, das ist die Geschichte von Renz, dem Arzt, der seine Frau Stella durch ein Gewaltverbrechen verloren hat und danach aus dem Leben gekippt ist. So wie viele andere Glückssucher in den Büchern Zaimoglus auch. Nur dass Renz ein Glücksverlierer ist, der die Asche seiner Frau bei sich zuhause aufbewahrt, um sie sich ab und an auf die Zunge zu reiben. Duisburg fungiert in »Ruß« gleichsam als Spiegel seiner dunklen Seele. Zusammen mit seinem Schwiegervater betreibt Renz einen kleinen Kiosk, an dem sich Männer einfinden, die viel Zeit, wenig Geld und großen Durst haben.
Das Vorbild für diesen Kiosk steht ein paar Kilometer Richtung Ruhrmündung, im Duisburger Stadtteil Ruhrort. Wenn die Stadt eines der Armenhäuser der Region ist, dann gehört Ruhrort zu dessen reno-
vierungsbedürftigen Zimmern. Hier ragt das alte Stadt noch in die Jetztzeit hinein. Auf dem Neumarkt duckt sich ein rot-braun ver-klinkertes Häuschen im Schatten der Bäume. Auf den ersten Blick ist der gedrungene Bau mit der MSV-Fahne nur schwer als Büdchen zu erkennen. Der Bürgermeister sähe es lieber durch eine »zeitgemäße Cafeteria« ersetzt, um die Gegend zu beleben. Ein Plakat im Fenster wirbt für den Tatort-Abend im »Cafe Kaldi«, der früheren Stamm-kneipe des Malocher-Kommissars Horst Schimanski auf der anderen Seite des Platzes. Der Mann von der Stadt, der zufällig vorbei kommt, erkennt Zaimoglu sofort. Händeschütteln, großes Hallo. Das sei ja jetzt der »Kultkiosk« der Stadt, ist zu hören, und zu spüren ist auch der Stolz, dass Duisburg überregional mal wieder vorkommt, ohne dass von der »Love Parade« die Rede ist.
In der WAZ ist am Morgen eine ausführliche Besprechung des Buches erschienen. Zaimoglu könne mit »Ruß« eine Debatte über »Sein und Schein« des Reviers auslösen, wie zuletzt Heinrich Böll es mit seinem Vorwort zu Chargesheimers 1958 erschienener Bildreportage »Im Ruhrgebiet« vermocht hatte, stellt die Rezensentin in Aussicht. »Das Ruhrgebiet wurde aus der Dreckatmosphäre gesehen«, so brachte der Direktor des Bochumer Verkehrsvereins die Empörung damals auf den Punkt.
Zaimoglu interessiert sich in »Ruß« nicht für die Renommierobjekte des strukturgewandelten Duisburg. Ein »Paradies für Vollidio-ten« nennt Renz den Innenhafen, aus dem man »die einfachen Leute« verbannt habe, um ihnen »unwürdiges Zeugs als neue Wahrzeichen der Stadt« anzudrehen. »Dass die Leute diesen Affenworten wie ›Umstrukturierung‹ zunächst einmal skeptisch gegenüber stehen, ist für mich ein Zeichen des gesunden Menschenverstandes«, sagt Zaimoglu. »Denn das hat immer bedeutet, dass man sie aus den Firmen, Fabriken und ihren Häusern herausjagt.«
Norbert, Kallu, Hansgerd oder Eule sind solche Männer, über die die Zeit hinweggegangen ist. Zaimoglu hat ein großes Herz für sie. Sie treffen sich in »Ruß« bei Renz an der Bude, um sich ein bisschen Freude anzutrinken. Renz’ Wohnung liegt gleich schräg gegenüber, über der Metzgerei. Zaimoglu zählt noch einmal schnell die Fassaden ab. Es ist das vierte Haus von links. Ein bisschen geschummelt habe er aller-dings. Die schlesischen Würstchen, die Renz sich dort immer kauft, gebe es hier nicht. Die habe er aus Bochum importiert.
Doch in der Metzgerei gibt es schon seit langer Zeit überhaupt kein Fleisch mehr. Das Geschäft steht leer, wie so viele andere Ladenlokale in der Umgebung auch. Hier und da besteht die Realität den Fiktionscheck nicht. Was aber nichts weiter zur Sache tut. Denn Feridun Zaimoglu versteht es wunderbar, diese Schauplätze während der Führung überhaupt erst aufzubauen. Die Recherche selbst ist eine Geschichte, und die will erzählt werden. Wenn sie gut sein soll, dann geht das nur mit Emphase und Dramatik. So vielleicht: »Ich habe hier auch Leid erfahren, also wirklich schwer kämpfen müssen, um das endlich, endlich hinzukriegen, dass die Geschichte auch stimmt. Ich habe mich nicht geschont.« Ruhrort ist eben ein Viertel, in dem mit aufgekrempelten Ärmeln gearbeitet wird – und damit ist Zaimoglu sehr bei sich selbst und zugleich ganz Duisburger.
Feridun Zaimoglu, »Ruß«; Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011, 272 Seiten, 18,99 Euro.
Lesung am 14.9.2011, 19:30 h in der »Leeranstalt«, d.i. der ehemalige Kaufhof, Friedrich-Ebert-Str. 32-35, Mülheim an der Ruhr (Veranstaltung des Ringlokschuppen www.ringlokschuppen.de)