TEXT: ANDREAS WILINK
Die Zeit, die ist ein sonderbar’ Ding… Acht europäische Spielfilme starten im Wettbewerb des Filmfestivals Münster, das in seiner 15. Ausgabe Beiträge zum Thema »Zeit«, ihrem subjektiven Verlauf, dem Warten und der Erwartung, dem falschen Moment, dem Verlust von Festigkeit in der Zeit, ihrer sozialen Bedingtheit und vielen Aspekten mehr versammelt hat. Und dabei glückliche Hand beweist. Eine Auswahl.
152.000 Dollar sollen sie zahlen, wenn die wohlhabenden Eltern Edelman ihre Tochter Dafna zurück haben wollen, die ein Brüderpaar von der Straße weg gekidnappt und in den Keller des eigenen Hauses gesperrt hat und die sie mit roher Gewalt behandeln. Es geht ums »Business«. Aber was heißt das? Yaki und Shaul (David und Eitan Cunio), der ältere Soldat und der jüngere noch Schüler, brauchen das Geld, damit die Familie nicht ihre Wohnung verliert. Ein Statement zur sozialen Lage: Arbeitsplatz-Verlust, steigende Mieten, Verelendung des Mittelstands, Depression, Neid, Verzweiflung. Die Entführung misslingt, weil die Erpressungs-Botschaft nicht bei ihren Opfern ankommt – am Shabbat. Vielleicht haben die Beiden zu viele Action-Filme gesehen oder zu viel Nachrichtensendungen über innere Spannungen im einst Gelobten Land. Yaki und Shaul, die sehr vertraut miteinander sind und familiär stark und gut eingebunden, tun das Schlimmste mit den besten Absichten.
Tom Shoval aus Petach Tikva, geboren 1981 und Lehrer an der Filmhochschule in Jerusalem, setzt mit »Youth«, einer israelisch-deutschen Koproduktion, ein Ausrufezeichen. Die Jugend endet mit 18 Jahren. Jungens und Mädchen lernen als Soldaten den Dienst an der Waffe, müssen vielleicht töten und spüren eine Macht, der sie nicht gewachsen sind. Von Schule und Freizeit ins Extrem. »Youth« hat auf den ersten Blick nichts zu tun mit dem, was im Nahen Osten passiert: Krieg, Konferenzen, Konflikte seit mehr als sechs Jahrzehnten. Der Film besitzt wuchtige Direktheit und stumme Traurigkeit, die Extremismus und Sprengkraft spüren lassen, die nichts mit Bomben und Dynamit zu tun haben. Die Kamera lässt am Ende die vaterlosen Brüder zurück.
Zwischen Mann und Frau, Lust und Liebe, Berlin draußen und Bettwärme drinnen, Stadt und Natur erzählt Tom Lass seine Geschichte: »Kaptn Oskar« schippert ziellos durch den Lebensalltag eines eher Leichtmatrose zu nennenden, verschlafen wirkenden, dezent regressiven Titelhelden (Lass selbst) und seiner zwei Frauen, der wilden Halb-und-Halb-Ex Alex, und der sanfteren Masha, die viel mit älteren Männern schläft und mit der Oskar – laut Abmachung – zunächst eine Kuschel-Beziehung unterhält. Ihre größte Gemeinsamkeit scheint die Zigarette davor, danach oder dazwischen zu sein. Ambulante Verhältnisse. Lauter Vorläufigkeiten. Verlängerung der Kindheit. Außer Atem gerät man dabei nicht.
Ein Kind erlebt den Tod des Vaters, mitten aus einem Spiel heraus. Nur einen filmischen Moment und lange erzählte Zeit später plant Ian Harding, nun ein Mann (Robert de Hoog), seinen Selbstmord im Auto mit Abgasen und Gift. Und erinnert sich: dass er mit 16 ein Mädchen erhängt am Baum im Wald fand, dass auch seine Mutter stirbt und ihm einen Abschiedsbrief mit auf den Weg gibt, dass er aus der Welt fällt und sich wieder fängt. Der Tod wird zum Begleiter und zu seiner Passion. »Love Eternal« des Iren Brendan Muldowney nach einem Roman von Kei Oishi ist ein filmischer Trip, bildstark, kunstvoll, von melancholischer Schönheit, von schrägem Humor wie einst »Harold and Maude«, surreal und suggestiv. Der pathologische Charakter Ian verfällt dem Morbiden und wird in seiner Sympathie mit dem Abgrund selbst zum Todesengel und Totengräber lebensmüder Frauen.
Das Dorf in »The Fifth Season« (Belgien) sieht aus wie auf Gemälden flämischer Meister – das Korn geht nicht auf und bleibt taub, die Kühe geben keine Milch, Fische verenden, die Bienen im Stock sind tot, Kinder sterben. Die Bauern verzweifeln, die Menschen rücken aneinander, werden irre oder zur Meute und ziehen in Bergman’scher Prozession am Horizont entlang. Der Untergang – aber in Schönheit und in Bildern, deren stehende Kraft an Tarkowskys elegische Opfergänge erinnert. Es ist, als habe der belgische Regisseur Peter Brosens sich von mittelalterlichen Legenden und Chroniken inspirieren lassen und sie in eine prosaische Gegenwart übertragen, die ihren Schrecken kaum fassen kann. Zeitenwechsel.
9. bis 13. Oktober 2013; zum Programm gehört auch neben dem regulären Kurzfilmwettbewerb u. a. der Extra-Kurzfilmwettbewerb »Filmreif – Kurze für Teens« für Jugendliche ab 13 Jahren; www.filmfestival-muenster.de