TEXT: STEFFEN RICHTER
»Literatur«, sagt Terézia Mora, »kann nicht wie Leben sein, nur das Leben ist wie Leben«. Das klingt banal, birgt aber eine profunde, durchaus nicht allgemein verbreitete Erkenntnis: Romane sind Sprachkonstruktionen. Das bedeutet auch: Ohne Handwerk wird es nichts mit der Literatur. Handwerk freilich ist nicht alles. Seine andere Seite nennt Mora schlicht »das Wunder im künstlerischen Arbeiten«. Es sei dieser Zustand, »wenn sich alles richtig anfühlt, wenn man weiß, jetzt kann man sich nicht mehr irren«. Kurz: »Das ist das Paradies«. Nicht zuletzt diese Verbindung von Pragmatismus und einem gesunden Sinn fürs Wunderbare dürfte Terézia Mora für die Stelle als Poet in Residence an der Universität Duisburg-Essen prädestinieren. Moras Weg zur renommierten Schriftstellerin liest sich eindrucksvoll: 1997 gewinnt sie den Berliner Nachwuchswettbewerb um den »Open Mike«, zwei Jahre darauf den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt. Später kommt unter anderem der Adelbert-von-Chamisso- Förderpreis hinzu und zuletzt der Preis der Leipziger Buchmesse. Eine Literaturbetriebs-Bilderbuchkarriere, die zur Skepsis mahnt? Nein, keineswegs. Manchmal treffen Literaturpreise einfach die Richtigen. Bei Terézia Mora jedenfalls war von Beginn an klar, dass sie es ernst meint mit der Literatur.
Daran gab es schon 1999 keinen Zweifel, als sie mit den Erzählungen »Seltsame Materie« debütierte. »Seltsame Materie«, das war Moras Kindheitslandschaft, ein fiktiver Ort an der ungarischen Westgrenze, nahe Österreich. Diese Erzählungen, sagt sie heute, waren im Grunde »eine einzige ›So-kam-ich-Geschichte‹«, eine Art Zusammenfassung dessen, was sie bis zu ihrem Fortgang aus Ungarn erlebt und gelernt hatte – »mein Bündel«. Zu diesem Bündel gehörten der Abscheu vor der Provinz und die Lust an der Flucht. Dazu gehörte aber auch das Wissen um die offensichtlichen und diffusen Bedrohungen einer autoritär verfassten Gesellschaft, die Mora gern den »real Existierenden« nennt. Auch die Erkenntnis, als Kind einer deutschsprachigen Familie zu einer Minderheit zu gehören und Außenseiter zu sein, ist Teil dieser Erbschaft. Nicht, dass dieses Erlebnismaterial zu literarischen Zwecken ein für alle Mal verfüg- und abrufbar wäre. Doch zumindest dürfte aus der Erfahrung verschiedener Zu- und Unzugehörigkeiten das existentielle Schillern in Moras Erzählen stammen. Da changieren die Perspektiven, da lässt sich keine kohärente Erzählerfigur aus dem Text destillieren. Ein willkommener Nebeneffekt der vielschichtigen Erzählanlage besteht darin, nicht autobiografisch missverstanden zu werden. Nein, unschuldig erzählen konnte Mora schon damals nicht. Nach Berlin war die 1971 Geborene mit 19 Jahren gekommen, zum Studium von Hungarologie und Theaterwissenschaften. Später kam das Drehbuchschreiben dazu. Als sie den »Open Mike« gewann, verdiente sie ihr Geld mit Krimi-Drehbüchern fürs Fernsehen. Und natürlich mit literarischen Übersetzungen aus dem Ungarischen. Das kann zur heiklen Angelegenheit werden, besteht doch die Gefahr, sich bei intensiver Arbeit am fremden Text von dessen Stil anstecken zu lassen. Nicht so bei Mora. Nein, sie sei kein »chamäleonartiger Übersetzer «, der sich jedem Stil anpassen kann. Bei ihr verlaufe es eher umgekehrt: Sie passe sich das Übersetzte an. Allerdings wage sie sich nur an Texte, denen das bekommt – »alles andere wäre nicht fair«. Etlichen Büchern ist es recht gut bekommen, etwa Lajos Parti Nagys »Meines Helden Platz« oder dem Opus Magnum ihres Landsmannes Péter Esterházy: »Harmonia caelestis«. Und selbstverständlich kann das Übersetzen auch eine Einübung in die eigene Literatur sein. Zu mindest in »Seltsame Materie« ging es nicht zuletzt darum, einen ungarischen Kultur- und Sprachkosmos mit einem deutschen zu überschreiben, die Fremdheit des Erzählten auch in der Sprache durchschlagen zu lassen.
Im Unterschied zu vielen Schriftstellern, die sich der literaturbetrieblichen Text-Umschlaggeschwindigkeit anschmiegen und nach dem ersten, halbwegs erfolgreichen Buch schnell das zweite nachlegen, hat sich Terézia Mora Zeit genommen. Diese Langsamkeit wurde belohnt. Als 2004 der Roman »Alle Tage« erschien, brach das Feuilleton beinahe unisono in Jubel aus. Und zwar zu Recht. Die Geschichte des Abel Nema ist ein inhaltlich erstaunliches, formal virtuoses und vor Zeitgenossenschaft vibrierendes Buch: »Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier.« So klingt der Aufgalopp zu einem 400-seitigen romanesken Hasardstück.
Es beginnt damit, dass der Protagonist Abel Nema kopfüber an einem Klettergerüst hängt. Im Folgenden wird erzählt, wie es dazu kommen konnte. Abel stammt aus einem Ort an drei Grenzen, sein bürgerkriegsversehrtes Land gibt es nicht mehr. Man könnte es mit Jugoslawien verwechseln, so wie man den aktuellen Schauplatz »B.« für ein fiktional modifiziertes Berlin halten kann. Doch Abel ist nicht eigentlich ein politischer Flüchtling, weggegangen war er wegen der unerwiderten Liebe zu seinem Jugendfreund Ilia. Freilich, die Frauen bestürmen ihn, von einer, Mercedes, lässt er sich sogar heiraten, um der Abschiebung zu entgehen. Doch Abel ist staatenlos, ein Fremder in jedem erdenklichen Sinne. Und das bleibt er. Trotz einer gewissen Seelenverwandtschaft mit Mercedes’ klugem, einäugigem Sohn Omar, trotz einer Affäre mit der Musikerin Kinga in der exzentrischen Nachtbar »Klapsmühle« und trotz seiner so außergewöhnlichen wie nutzlosen Begabung: Abel, der Schweigsame, spricht zehn Sprachen. Doch was ihm auch über die Lippen kommt, ist, »wie soll ich das sagen, ohne Ort, so klar, wie man es noch nie gehört hat, kein Akzent, kein Dialekt, nichts – er spricht wie einer, der nirgends herkommt«. Aus allen Zusammenhängen gefallen, das ist Abel.
Terézia Mora freilich hat diese Zusammenhangslosigkeit zu einem grandiosen Text verwebt. In einem Kapitel, das »Zentrum« heißt, aber am Ende des Romans steht und zudem mit »Delirium« untertitelt ist, heißt es plötzlich: »scheiß neue Lust am Erzählen!« Gemeint sein dürfte die Lust an jenen kunstlosen Wirklichkeitsmitschriften und biederen Geschichten nach dem Leben, wie sie viele jüngere Gegenwartsautoren erzählen. Ganz gewiss nicht gemeint ist die Lust an einem Erzählen, das man gleichermaßen wild und artifiziell nennen kann. Denn dass eine hübsch lineare Chronologie und stabile Perspektiven hier auf der Strecke bleiben, versteht sich fast von selbst. Doch das Geheimnis des Mora-Tons könnte in der bewusst inszenierten Nachdrücklichkeit des Erzählens liegen: Immer ist eine Stimme zu vernehmen, die das turbulente und oft grausige Geschehen liebevoll oder entsetzt, aus der Nähe oder der Distanz begleitet.
Keine Frage, mit ihren Büchern, die man getrost als Literatur im engeren Sinne bezeichnen kann, ist die Ungarin Terézia Mora zu einer wichtigen Stimme der deutschen Gegenwartsliteratur geworden. Ganz wie die Türkin Emine Sevgi Özdamar, der Bulgare Ilja Trojanow oder Saša Stanišić aus Bosnien-Herzegowina. Die Zeiten, in denen Literatur von Migranten auf einen wohlwollenden Exoten-Bonus angewiesen war, sind längst vorbei. Für Mora stellt dieser Erfolg lediglich eine Selbstverständlichkeit dar, eine Folge forcierter Migrationsbewegungen verschiedenster Art. Die können mit schmerzhaften Erfahrungen einhergehen, doch gebe es auch eine Lust an der Ortlosigkeit. »Was mich persönlich anbelangt«, meint sie, »fühle ich mich in mir mit meinen ganzen Identitäten gut integriert.« Doch sie weiß auch: »Es gibt keine sichere Seite, stupid!«
Als Essener Poetik-Dozentin will Terézia Mora vor allem über literarische Verfahren sprechen. Doch: »Wenn ich ausgeredet haben werde, wird hoffentlich allen klar sein, dass man mir jede Frage stellen kann.« Die Chance sollte man nutzen. Denn was wir, die »Sesshaften«, von einem wie Abel Nema, dem »Nomaden«, erfahren könnten, ist ein Stück produktiver Verunsicherung: Unser Ort und unsere Identität sind weit weniger stabil, als wir oft wahrhaben wollen.
Öffentliche Termine: 5.6.2007, 16 Uhr Werkstattgespräch mit Klaus Siblewski (Lektor Luchterhand) und Jochen Vogt (Universität Duisburg-Essen), Glaspavillon Campus Essen / 5.6.2007, 20 Uhr Lesung aus »Alle Tage« (Stadtbibliothek Essen, Hollestraße) / 6.6.2007, 16 Uhr Poetik-Vorlesung »Sag es einfach. Wort für Wort«, Glaspavillon Campus Essen