Das Reifezeugnis hatte es längst, ausgewachsen ist es ebenfalls. Aber für das Filmfestival Münster, das zum 20. Mal sein Programm sehen lässt, muss ohnehin gar nicht neu Maß genommen werden. Denn sein Zwergen-Status (unter dem Namen »Filmzwerge« hatte die Initiative sich einst gebildet) war ohnehin als ironische Selbstverschrumpfung gemeint.
Besonders neuen Talenten und dem Nachwuchs wird eine Bühne gegeben; dafür wurden für diesen Jahrgang 1000 Filme gesichtet. Im Zentrum stehen die Europäischen Wettbewerbe: im Spielfilm-Genre mit acht Debüts; beim Kurzfilm, der all seine Facetten in 32 Arbeiten in sechs Programmblöcken bietet; hinzu kommt die Sektion »Westfalen Connection« mit Produktionen aus der Region. Der Länderschwerpunkt Niederlande bringt ebenfalls einige Debüts über die nahe Grenze. Die Reihe Nightwatch widmet sich dem Subgrenze des italienischen »Giallo«, das besonders in den 1970er-Jahren wohl temperierten, horrorhaften und kriminalistischen Schrecken in die Kinos trug wie etwa Dario Argentos »Suspiria« von 1977. Zwei Filme aus dem Spielfilmwettbewerb stellen wir im Folgenden vor.
»Tengo sueños eléctricos« von Valentina Maurel
Verschlossen und aufgebracht, neugierig und in sich gekehrt, das ist kein Widerspruch, wenn man 15 oder 16 ist, niemand einen versteht und die Mutter meint, ein Dämon hause in der Tochter. Äußere Unordnung in ihrem Zimmer spiegelt das innere Chaos. »Tengo sueños eléctricos« (I have electric dreams) von der costaricanischen Regisseurin Valentina Maurel erzählt vom Heranwachsen, vom Aufruhr im eigenen Körper, von der Lust auf einen fremden Körper, erotischen Spannungen und Verspannungen. Die ohnehin komplizierte Phase von Up and Down wird noch beschwert durch die Trennung der Eltern und die Unbeherrschtheit des Vaters Martin, der als Schriftsteller durchaus empfindsam und seinen zwei Töchtern zugewandt sein kann. Die emotionale Belastung, bei der gegensätzliche Gefühle unausgeglichen bleiben, überträgt sich wie die Erbsünde in der Familie. Eva wiederum lässt momentweise ihre aufgestaute Aggression an der jüngeren Schwester aus. In einer Szene löst sie auf der Kirmes ein Ticket für eine wilde Karussellfahrt, die die Fahrgäste durcheinanderwirbelt und sie die Bodenhaftung verlieren lässt. Danach erlebt sie in einer Schaubude den Trick der Transformation von einer Frau in einen Menschenaffen und dessen bedrohlichem Ausbruch. Es geht also um unkontrollierte Impulse und Triebregungen, auf die Eva mit Provokation antwortet, die nur ein anderer Ausdruck ist für den Wunsch nach Nähe, vielleicht sogar nach Einvernehmen und Befriedigung.
Das Sprunghafte setzt die Inszenierung im Wechsel der Szenen, Stimmungen und Situationen fort. Valentina Maurel erhielt 2022 für dieses ‚All about Eva’ in Locarno den Leoparden für die beste Regie, Daniela Marin Navarro und Reinaldo Amien Gutiérrez wurden als beste Darstellerin bzw. Darsteller ausgezeichnet.
»The Quiet Girl« von Colm Bairéad
Jemand ruft nach Cáit. Aber das Mädchen antwortet nicht, als würde es vorziehen, unsichtbar oder tot zu sein. In der kinderreichen, armen Familie hat niemand Aufmerksamkeit für oder gibt Acht auf sie. Cáit (Catherine Clinch) ist in sich gekehrt und traurig, zugleich aufmerksam am Esstisch zu Hause, an ihrem Pult in der Schule, unterwegs und an ihrem neuen Lebensort. »Rumtreiberin« wird sie von ihrem ungehobelten Vater Dan genannt. Der bringt sie in drei Stunden mit dem Auto auf das Gehöft der Kinsellas, nicht weit von der See, und verabschiedet sich nicht mal von dem Kind, vergisst aber, den Koffer mit ihren Sachen dazulassen. Die Cousine von Cáíts Mutter, Eibhlín (Carrie Crowley), ist sanft und liebevoll, als habe sie Angst, etwas könne zerbrechen in Cáit, das schon angeknackst ist. Beide, sie und ihr Mann Séan, sind wunderbare Pflegeeltern. Sogar als Cáit sich als Bettnässerin erweist, reagiert Eibhlín rücksichtsvoll. In dem wohlgeordneten und gut gestellten Haushalt kann Cáit sich entfalten. Erst durch eine klatschsüchtige Nachbarin erfährt sie, dass das Ehepaar Kinsella einen Jungen hatte, der ertrunken ist.
Ein zartes Gespinst scheint die im Andante komponierte Filmerzählung umfangen zu halten, durchlässig und undurchsichtig. Das schafft eine Stimmung, wie sie die Romane des Iren Colm Tóibín erzeugen. Gleichzeitig atmet sie eine Schlichtheit, die korrespondiert mit der irischen Sommerlandschaft, in der sich wiederum der Seelenzustand des Mädchens spiegelt. Der Sommer endet, die Zeit läuft ab, Cáit muss zurück. Nun kennt sie das Glück – und seinen Verlust. Nicht verwunderlich, dass »The Quiet Girl« für die Oscar-Kür als bester ausländischer Film nominiert wurde. Er ist meisterlich wie ein Gemälde von Vermeer.
22. September bis 1. Oktober, Schloßtheater