Vor Jahren bekam Dirk Dresselhaus, bekannt als Elektromusiker SchneiderTM, vom Berliner Medienkünstler Arthur Schmidt einen USB-Stick mit unveröffentlichter Musik von Holger Czukay (1938-2017) in die Hand gedrückt. Er hörte sie sich an – und erkannte sofort das Visonäre an der Kunst des ehemaligen Masterminds der legendären Band Can. SchneiderTM masterte die Stücke, bearbeitete sie ein wenig, veröffentlichte sie nun – und erzählt im Interview von Kleinoden, Ehrfurcht, Musik als Trigger und Köln als einem idealen Ort der Czukay-Kunst.
kultur.west: Sie haben vor Jahren quasi im Vorbeigehen die Aufnahme eines bislang unveröffentlichten Elektro-Stückes von Holger Czukay in die Hand gedrückt bekommen. Das haben Sie nun gemastert und als Album unter dem Titel »Gvoon – Brennung 1« veröffentlicht. Czukay war, nicht zuletzt wegen Can, eine Legende. Wann war Ihnen bewusst, dass Sie da ein Kleinod in den Händen halten?
SCHNEIDER TM: Nachdem mir Arthur die Aufnahme gegeben hatte, dauerte es noch zwei Wochen, bis ich dazu kam, mir alles anzuhören – und ich fand es sofort sehr beeindruckend. Ich kenne zwar ganz sicher nicht alle Sachen von Holger Czukay. Aber ich kenne vieles. Gerade das, was er mit Can gemacht hat, natürlich. Dies hier aber ging eher in Richtung seiner Stockhausen-Phase, die er vor der Band gehabt hatte. Insofern war diese Musik für mich eine Überraschung: Sie entstand 1997, bezog sich aber auf die Zeit vor Can – und klang gleichzeitig, und bis heute, so zeitgemäß. Wie eine Mischung aus Morten Feldman und dem Soundtrack eines »Blade Runner«-Films, der erst in zehn Jahren gedreht wird. Insofern war da schon das Gefühl, ein Kleinod in der Hand zu halten. Aber mir geht es oft so: Die interessantesten Sachen sind die, die als plötzlicher Impuls von außen kommen und mich sofort triggern. Überraschungen eben. Das ist generell das Beste, was Musik sein kann: eine kommunikative, soziale Kunstform – und kein Vakuum. Sie zieht sofort in ihren Bann.
kultur.west: Was genau machte »Gvoon«, was machte Czukays Musik so visionär?
SCHNEIDER TM: Es war damals noch keine Popmusik. Aber sie ist es jetzt. Er kratzte damals schon am heute zeitgenössischen Clubmusik-Kontext – Noise-Sachen, Dubstep, Soundwellen. Das passt hundertprozentig in diesen Kontext, würde ich sagen. Sein Material ist universell einsetzbar. Und ich habe diesbezüglich für mich auch schon einige Kollaborationen im Kopf, um mit dieser Musik weiterzuarbeiten und um sie weiter in die Jetzt-Zeit zu übertragen.
kultur.west: Wie geht man an solch ein unverhofft aufgetauchtes, noch nie gehörtes Werk eines Ausnahmekünstlers heran?
SCHNEIDER TM: So wie er es aufgenommen hat: Nach und nach und vorsichtig, ehrfürchtig. Es fängt ja als Session mit irgendwelchen Drum Machines an. Suchend. Und dann – über, sagen wir mal, eine Stunde – kommt Czukay so langsam dahin, wo er wohl hinwollte. Er findet sich langsam. Es ist alles situationistisch. Und roh. Mit Fehlern und Klicks und unsauber geschnittenen Samples. Hier und da habe ich dann auch eingegriffen. Aber nur dezent. Denn der Spirit der Musik ist bei ihm auch in diesem Fall von Anfang an da. Und ich wusste: Hätte Czukay versucht, bei der Session alles möglichst gut aufzunehmen, wäre alles vielleicht auseinandergefallen. Aber so hat er einfach den richtigen Moment benutzt und sich darauf konzentriert. Das hatte ich beim Mastern immer im Hinterkopf. Das war mein Ansatz, damit umzugehen. Mit maximalem Respekt. Das halte ich aber immer so.
kultur.west: Die Musik regiert also?
SCHNEIDER TM: Ja. Die Musik ist für mich, salopp gesagt, King. Sie steht auch über dem Musiker. Weil sie ein Eigenleben führt und Eigendynamiken hat. Die muss man wahrnehmen und man muss das Richtige dafür tun, um dies möglichst gut herauszuarbeiten. Genau in dieser Hinsicht war es eben unheimlich spannend, mit solch einer Aufnahme zu arbeiten. Das Material hat mir quasi erzählt, was es will.
kultur.west: Wie hoch ist die Gefahr, zu viel zu verändern?
SCHNEIDER TM: Sie existiert. Man hätte das Stück beispielsweise auch total aufblasen können. Aber das hätte den Geist des Ganzen verfälscht. Es ist, wenn Sie so wollen, wie die Restauration eines Gemäldes: Das will man ja auch nicht verfälschen, sondern möglichst wieder in den Originalzustand versetzen. Holgers Original war ziemlich low-fi und dünn. Also habe ich ein paar Sachen hörbar gemacht, die im Original ein bisschen untergegangen sind. Mehr aber auch nicht.
kultur.west: Was denken Sie: Hätte Czukay Ihre Arbeit gefallen?
SCHNEIDER TM: Er hätte wahrscheinlich einen ganz eigenen Weg gefunden, im Nachhinein mit diesem Material umzugehen. Hat er ja immer. Es gab bei ihm ja keine Grenzen. Aber, ja: Ich denke, er hätte das gut gefunden. Und er wäre sehr neugierig auf meine Arbeit gewesen. Da bin ich mir hundertprozentig sicher. Er liebte es ja selber, mit jeglichem Material zu experimentieren. Insofern hätte er auch die erwähnten, zukünftig möglichen Kollaborationen in Sachen »Gvoon« goutiert. Und überhaupt: Ohne jetzt esoterisch zu werden, muss ich sagen: Ich habe irgendwie das Gefühl, dass Holgers Geist Arthur zu mir geschickt hat mit diesem USB-Stick und mit diesem Material darauf. Bei mir hat es ja sofort total geklickt (lacht).
kultur.west: Holger Czukay und Can werden stets in NRW verortet. Czukay starb 2017 in Weilersweist nahe Köln. Natürlich ist es eine hypothetische Frage, aber: Wäre eine solche Zusammenarbeit zwischen Schmidt und ihm, wäre das Komponieren eines solchen visionären Stückes Musik auch anderswo möglich gewesen?
SCHNEIDER TM: Zumindest kann man sagen: Arthur war damals ja auch in Köln – und ich denke mal, die beiden hätten sich wahrscheinlich nirgendwo anders kennengelernt als dort. Es lebten damals überhaupt viele Leute in Köln, die sich mit dieser Art von ganz spezieller Club-Musik, dieser Art von Kunst auseinandersetzten. Es gab da eine konzentrierte Szene, die es in – sagen wir – Berlin nicht gab. Da gab es Techno als Clubkultur, in der Ost- und West-Berlin zusammenkamen. Mit Party und Drogen. Insofern: Ja, es war durchaus ein Köln-spezifisches Ding.
»Gvoon – Brennung 1« ist als LP, CD sowie digital erhältlich (Label: Groenland). Es ist die dichte, mitunter düstere Vertonung von Arthur Schmidts Gedanken über eine Zeit, in der dieser in einem Berliner Gefängnis der DDR-Staatssicherheit inhaftiert war. Czukay hatte die Musik unaufgefordert aufgenommen und sie ihm zur weiteren Nutzung überlassen.