Der Kunde ist König in Carmens Lädchen. Das ist nicht nur eine Floskel, für ihre Kunden haben die Keutgens sogar eine Wand eingerissen. In einem kleinen Raum neben der Garage, in dem Carmen Keutgen Eifeler Spezialitäten und Brot verkauft, während ihr Mann Antipasti macht und Torten zubereitet. Los ging es mit ein paar Stehtischen, dann wurde in den Nebenraum expandiert. »Die Leute haben gefragt: Carmen, kannst du nicht auch Frühstück machen?« Am Samstag hätten sie dann den Durchbruch gemacht und am Montag eröffnet.
Carmen Keutgen trägt Tracht, spricht singendes Rheinländisch und sitzt auf der Eckbank des neuen Raumes, in dem ihre Gäste jetzt frühstücken, Kaffee trinken oder Karneval feiern. Bei schönem Wetter gibt es davor auch einen kleinen Biergarten. Denn irgendwann hieß es auch: »Carmen, kannst du nicht Bier ausschenken?« Also fuhr die 60-Jährige nach Aachen, um den »Frikadellenschein« zu machen, wie sie sagt, und so die Konzession für den Ausschank zu bekommen. Nun kann man bei den Keutgens also auch im Biergarten sitzen und übers Feld schauen. Auf die Berge, den See, das Dorf.
Rund 1900 Einwohner hat Obermaubach, die benachbarte Siedlung Schlagstein mit eingerechnet. Und wenn es so kommt, wie es Demografen und Statistiker erwarten, müsste sich das Dorf bald Sorgen um seine Zukunft machen. Noch lebt etwa jeder Dritte Einwohner von Nordrhein-Westfalen auf dem Land. Aber das Statistikamt »Information und Technik Nordrhein-Westfalen« rechnet damit, dass die Ballungsräume wachsen – und das Land ausdünnt.
Während Städte wie Köln, Düsseldorf oder Bonn stetig an Einwohnern gewinnen – statistisch gesehen bis zu 19 Prozent in den nächsten 20 Jahren, der Wohnraum dort knapp wird und die Mieten steigen, prognostizieren die Experten für viele kleinere Kommunen einen Abwärtstrend. Das Dorf Obermaubach ist keine eigenständige Gemeinde, sondern einer von elf Ortsteilen der Gemeinde Kreuzau. Bis 2040 soll die Bevölkerung von ganz Kreuzau um 16 Prozent schrumpfen. Weil Menschen wegziehen oder mehr Bewohner sterben als geboren werden. Für Obermaubach würde das bedeuten: 300 Menschen, ein Sechstel der jetzigen Bevölkerung weniger. Die Bertelsmann-Stiftung warnt, der Schrumpfungsprozess könne Folgen für die soziale Infrastruktur in ländlichen Gebieten haben. Weniger Menschen – weniger Angebote und öffentliche Einrichtungen.
Landflucht? In Obermaubach kann man sich das noch nicht so recht vorstellen. Stefanie Tings kommt auf einen Kaffee in Carmens Lädchen. Die 32-Jährige ist gelernte Erzieherin, kümmert sich derzeit um ihre beiden kleinen Söhne und leitet in einer Hebammenpraxis eine Spielgruppe. Ihr Mann arbeitet an drei Tagen pro Woche in Köln, die anderen beiden Tage im Home Office. Das klappt gut, seit es in Obermaubach schnelles Internet gibt. Das Paar war nach der Schule kurz weggezogen. Zugegeben: nicht weit. Nach Düren. Aber sie kamen zurück. Für Stefanie Tings ist hier alles da: reges Vereinsleben, ein Kindergarten, die Zweigstelle einer Grundschule. Und Sicherheit. »Hier kann man die Kinder draußen laufen lassen.« Wenn eine alte Frau sich länger nicht blicken lässt, schauen Nachbarn und Bekannte bei ihr zu Hause nach. »Das ist Dorf.«
Zu einem der Treffpunkte ist Carmens Lädchen geworden. Dabei hatten die Keutgens 2006 durchaus gezweifelt, ob es sinnvoll wäre, ein Geschäft zu eröffnen. Als die Entscheidung gefallen war, brachten zwei Schicksalsschläge Gewissheit: Der letzte Bäcker im Dorf hatte einen schweren Unfall. Außerdem verlor Karl-Heinz Keutgen seinen Job. »Wir wollten immer noch einmal selbstständig sein«, sagt seine Frau. »Da haben wir es einfach probiert.« Wenn jemand Waschmittel braucht, besorgt sie auch das. Wenn ein Wanderer noch ein paar Brote mit auf den Weg nehmen will, schmiert sie die. Die Keutgens wandern selbst. Sie wissen, wie es ist, durch ausgestorbene Dörfer zu kommen, wo man nicht mal eine Flasche Wasser kaufen kann.
»Das ist ein Zubrot. Leben kann man davon nicht«, sagt Karl-Heinz Keutgen. Seine Rente ist weiterhin die Einkommensgrundlage des Paars. Ein bisschen wollen sie ihren Laden noch weiterführen, nicht wegen des Geldes. Sondern weil sie sich ein bisschen in der Pflicht fühlen, nicht nur für die Einheimischen, auch für Touristen. Denn die kommen weiterhin in das Dorf an der Rur. Sie bleiben nur nicht mehr so lang. »Die Leute fliegen heute lieber nach Spanien«, sagt Heinrich Winter. Der 64-Jährige ist ehrenamtlicher Ortsvorsteher von Obermaubach. Ein Mann mit weißgrauem Haar und wachen, hellen Augen, dessen Tag 40 Stunden haben muss. Er lenkt sein Auto runter ins Dorf. Ein paar Hotels und Gaststätten gibt es dort noch, aber die verdienen ihr Geld eher mit Tagesausflüglern.
Entlang von Obermaubachs gepflegten Straßen offenbart sich ein architektonischer Stilmix. Das nichtssagende Einfamilienhaus aus den 70ern steht neben einem Fachwerkjuwel, auf der anderen Seite ein moderner Kasten, bei dem man von der Straße aus durch hohe Fenster in den Garten schauen kann. Wer hier wohnt, kann sich Platz dafür nehmen. Ein richtiges Neubaugebiet gibt es nicht, dafür haben in Baulücken auch ausladende Neubauten noch Platz gefunden. Den Häusern nach sind einige Leute mit üppigem Einkommen ins Dorf gezogen. Ärmlich wirkt Obermaubach nicht.
Trotzdem: Der Wandel hat Spuren hinterlassen. In der zentralen Apollinaristraße sind Ladenfenster verhangen, Metzger und Lebensmittelmarkt haben zugemacht. »Und nicht, weil die zu viel verdient haben«, sagt Heinrich Winter ironisch. Er schließt die Tür zum Gemeindehaus neben der Kirche auf. Unten gibt es eine kleine Bücherei, daneben und darüber Räume, in denen sich Jugendgruppen und Vereine treffen. Eine Renovierung würde dem angestaubten Ambiente guttun. Aber die wäre teuer. Dass die Kirchengemeinde einspringt, glaubt der Ortsvorsteher nicht. »Wir rechnen jetzt, wie wir uns auf den neuesten Stand bringen können.«
Klappen würde das vielleicht, die Obermaubacher haben es an anderer Stelle vorgemacht: Der ganze Stolz des Dorfes misst etwa sieben mal 15 Meter. Zwischen der Freiwilligen Feuerwehr und der Grundschule schließt Heinrich Winter eine weitere Tür auf, er hat hier eigentlich für alles einen Schlüssel. Dahinter warten leichter Chlorgeruch und schwere Wärme. Das Lehrschwimmbecken wollte die Gemeinde Kreuzau 2004 schließen – kein Geld mehr für den Betrieb. Dann sprangen die Obermaubacher ein, gründeten einen Verein, übernahmen die Trägerschaft und schrieben eine »Erfolgsstory«, wie Winter sagt. Das kleine Bad ist fast ausgebucht. Familien, Schulen, Vereine und die Volkshochschule nutzen es. 300.000 Euro an reinen Materialkosten hat der Trägerverein investiert. Neue Belüftung, neue Pumpen, neue Fliesen. Die Bewohner haben mit angepackt, Handwerker haben kostenlos geholfen. »Das geht nur im Dorf«, sagt Heinrich Winter. »Dafür muss man sich kennen.«
Die Bürger müssen auffangen, was der Staat nicht mehr bezahlen kann. Das ist in Obermaubach nicht anders als in anderen Gegenden. »Die Gemeinden auf dem Land haben ja alle ein Haushaltsdefizit. Da müssen die irgendwo anfangen zu streichen«, sagt Heinrich Winter. Zusammen türmen die Gemeinden in Nordrhein-Westfalen Schulden in Höhe von mehr als 60 Milliarden Euro auf, hat das Statistikamt Information und Technik errechnet. Rein rechnerisch kommen damit auf jeden Einwohner etwa 3500 Euro an öffentlichen Schulden. Für die Gemeinde Kreuzau sieht es mit 212 Euro Schulden pro Kopf besser aus. Aber auch sie drückt ein Defizit von 3,7 Millionen Euro, ihre Einnahmen übersteigen seit Jahren die Ausgaben.
Der Ortsvorsteher scheucht seinen Wagen den Berg auf der anderen Seeseite hinauf. An einer exponierten Stelle hat die »Arbeitsgemeinschaft Obermaubach« eine kleine Kapelle in den Mischwald gebaut. Im Sommer wird dort oft geheiratet, mit Blick ins Tal. An diesem wolkenverhangenen Tag ist das Wasser im Stausee grau wie flüssiges Blei. Das Herz geht einem hier vor allem im Frühjahr auf. Wenn der See blau und die Blätter grün leuchten. Wenn die Städter wieder kommen, um zu wandern, Rad und Boot zu fahren. Heinrich Winter aber, eine Zigarette zwischen den Fingern, die Augen ins Tal gerichtet, wird nachdenklich beim Blick auf sein Dorf.
»Ich fürchte, dass die Toleranz verloren geht«, sagt der 64-Jährige, der CDU-Mitglied ist und Landwirt. Es gebe immer mehr Menschen, die andere nicht akzeptierten. Menschen, die sich nicht ins Dorfleben einbringen, aber Fotos mit dem Handy schießen und andere anzeigen wollen. Winter dagegen bildet seine Sätze selten mit »Ich«, eher mit »Wir«. Auch Flüchtlinge hat Obermaubach aufgenommen, mehr als 40. »Die meisten davon haben wir in Arbeit gebracht.« Einige ältere Dorfbewohner kümmerten sich um den Deutsch-Unterricht.
Vielleicht muss man sich also gar keine Sorgen machen um Obermaubach. Mit seinen Bürgern, die Kapellen bauen. Mit dem kleinen Bahnhof, dem schnellen Internet und den Menschen, die hier gerne wohnen. Dazu gehören offenbar auch die Flüchtlinge. Da gebe es zum Beispiel einen Mann aus Syrien, erzählt Heinrich Winter. Der stamme aus der Metropole Damaskus. Nach einiger Zeit habe er ihm erzählt, dass er seine Familie hierherholen will. Nach Obermaubach. Fern ab der Stadt. Er fühle sich angekommen – im Dorf.