Wäre den Kleinwächters mal langweilig – sie könnten versuchen, all die Bäume zu zählen, die sie von ihrem Balkon aus sehen. Wahrscheinlich würden sie schnell aufgeben. Wo Städter auf die grauen Fassaden der Nachbarhäuser schauen, da sehen die Kleinwächters Grün: das Wittgensteiner Bergland in sanften Hügeln. Fichten, Buchen, Tannen. Es ist Samstagmittag und über Diedenshausen liegt völlige Ruhe. Nur das heisere Piepen eines Vogels ist zu hören. Das 375-Seelen-Dorf gehört zur Stadt Bad Berleburg, die wiederum liegt im Kreis Siegen-Wittgenstein, ganz im Südosten von NRW. Die Landesgrenze ist im wahrsten Sinne des Wortes einen Steinwurf entfernt: Ein Bach teilt das Dorf, auf der anderen Uferseite beginnt Hessen.
Bad Berleburg ist die viertgrößte Kommune im Land – wenn es um die Fläche geht. Doch in der Kernstadt und den 22 Dörfern drumherum leben gerade einmal 19.000 Menschen. Nur halb so viele Menschen wie in der Kölner Altstadt. Längere Strecken sind in der dünn besiedelten Gegend normal: Die Kleinwächters haben zwei Autos, tanken müssen sie im Schnitt ein bis zwei Mal pro Monat: Wenn sie in die Kernstadt Bad Berleburg wollen, sind sie immerhin zehn Kilometer unterwegs.
Ende 2017 sind Angela Kleinwächter und ihr Mann Julian in sein Elternhaus gezogen. Vorher wohnten sie zur Miete, ein paar Häuser die Straße hinab. Dass sie in sein Heimatdorf gehen, war schnell klar. Julian spielte dort Fußball, trainierte mehrmals die Woche – und am Wochenende standen Spiele an. »Er ist hier total integriert«, sagt Angela, die zehn Kilometer entfernt, in Schwarzenau, aufgewachsen ist. »Ich wäre auch nach Schwarzenau gezogen«, sagt Julian. Er lacht. Aber in die Stadt? »Auf gar keinen Fall.« Hier seien schließlich »alle, die man kennt«.
Als Kind Nummer zwei unterwegs und klar war, dass sie mehr Platz brauchen werden, hat das Paar auch überlegt, ein Haus zu bauen. Doch so richtig überzeugend waren die Optionen nicht. In der Nachbarschaft hat ein Haus für günstige 120.000 Euro den Besitzer gewechselt. Weiter unten im Dorf aber werfen die Berge den Tag über viel Schatten, weiter oben kosten allein die Baugrundstücke zum Teil schon 75.000 Euro. Und beim Haus selbst zu sparen, fand Angela Kleinwächter falsch. »So wie ich hätte bauen wollen, wären wir ziemlich viel Geld losgeworden.« Wegzugehen habe nie zur Debatte gestanden. Also zogen die beiden mit ihren Kindern in die 100 Quadratmeter große mittlere Etage von Julians Elternhaus. Sie beteiligen sich an den Nebenkosten, zahlen jedoch keine Miete. Die Eltern des 32-Jährigen wohnen unter, seine Schwester über ihnen. Und der Bruder im Haus nebenan. Drei Generationen unter einem Dach. Für Angela Kleinwächter ist das kein Problem. Mit ihren Schwiegereltern versteht sie sich gut. Jeder lässt dem anderen seine Freiheiten. »Und man kann schnell mal das Babyfon rüberreichen.«
Sehnsucht nach einem Leben in der Stadt hat auch die 29-Jährige nie gehabt. »Ich mag es, wenn jeder sich kennt. Wenn man runter zum Bäcker geht, trifft man immer irgendwelche Leute.« Mariella ist fünf, Enie ein Jahr alt. Die Wege in Diedenshausen sind kurz. Für ein Dorf dieser Größe gibt es eine gute Infrastruktur: eine Kita mit 16 Kindern und einen Laden mit den wichtigsten Lebensmitteln, wenn mal etwas fehlt. Dort wird sogar noch selbst gebacken. Dass der Supermarkt in der Großstadt bis 24 Uhr geöffnet ist, lässt Angela kalt. »Muss das sein?«, fragt sie. »Ich kaufe ja nicht für einen Tag ein, sondern auf Vorrat.« Nur die Verkehrsanbindung könnte besser sein. Außer dem Schulbus fährt nur ein Ruf-Taxi, so ist hier praktisch jeder mit dem eigenen Wagen unterwegs.
Für Mariella ist es mit den kurzen Wegen, seit sie zur Grundschule geht, erstmal vorbei: Die liegt in Elsoff, 20 Bus-Minuten entfernt. Noch weiter ist der Weg nach Birkelbach, wo sie einmal in der Woche turnt. Sie und ihre Mutter sind dann eine Dreiviertelstunde mit dem Auto unterwegs. Angela Kleinwächter nutzt die Zeit, in der Mariella trainiert, um im nahegelegenen Erndtebrück einzukaufen. Falls ihre Tochter irgendwann um die Deutschen Meisterschaften mitturnt, müsste sie dreimal die Woche nach Birkelbach fahren. Angela lacht. »Mehr als zwei Kinder können wir nicht kriegen – sonst wäre ich irgendwann ein Taxi-Unternehmen.«
Die gelernte Einzelhandelskauffrau arbeitet zwei Tage pro Woche im Café einer Freundin in Bad Berleburg, wo auch Julian als Maschinen- und Anlagenführer bei einem Schraubenhersteller arbeitet, im Dreischicht-Betrieb: »So bleibt mehr Zeit für die Kinder.« Haben sie wirklich nie den Wunsch gehabt, in der Großstadt zu leben? Angela Kleinwächter schüttelt den Kopf. »Wir wohnen schon schön hier.« Ihr Mann denkt an seine eigene Kindheit – wie das damals war: einfach raus, aufs Fahrrad, ins Dorf, den ganzen Tag mit Freunden in der Natur unterwegs. So sollen Mariella und Enie auch aufwachsen.