Als Yehudi Menuhin acht Jahre alt war, hatte er bereits einiges hinter sich, zum Beispiel vier Jahre Geigenunterricht und einige Konzerte in San Francisco. Bald sollte er auf den großen Bühnen in Europa spielen und schließlich Albert Einstein tief berühren: »Nun weiß ich, dass es einen Gott im Himmel gibt«, soll der Physiker gesagt haben, nachdem er den 13-Jährigen in Berlin Violinkonzerte spielen hörte.
Janine ist auch acht. Wer Yehudi Menuhin ist, weiß sie nicht, dafür weiß sie seit einem Jahr, dass sie Modedesignerin werden will. »Ich hab schon sieben Kollektionen gemalt«, sagt die zierliche Drittklässlerin und kramt unter ihrem Pult ihre Entwürfe hervor. Möglich, dass Yehudi Menuhin an diesem Entschluss nicht ganz unschuldig ist.
Janine geht in die Klasse 3c der Erich-Kästner-Grundschule in Ratingen- West. Die rund 18.000 Einwohner des Stadtteils leben zumeist in Häusern, in denen sie einen weiten Blick haben – wenn sie Glück haben, bis ins reiche Düsseldorf, vielleicht aber auch nur auf die Fassade eines der benachbarten Wohnkomplexe mit 15 Etagen. Ende der 60er Jahre baute das DGB-Wohnungsunternehmen »Neue Heimat« Ratingen-West auf. Zwanzig Jahre später brodelte es in dem Viertel, das von vier Hauptverkehrsstraßen umgeben und durch eine Eisenbahnlinie von der Innenstadt abgeschnitten ist. Noch immer haben viele Familien, die hier leben, verhältnismäßig wenig Einkommen und gehören zu den bildungsfernen Schichten. Die Zahl der Arbeitslosen und der alleinerziehenden Mütter ist hoch. In Janines Klasse gehen nur zwei Kinder, deren Familien ursprünglich aus Deutschland kommen.Dennoch hat sich der Stadtteil erholt, denn er wurde nicht sich selbst überlassen. Als sogenannter sozialer Brennpunkt ist Ratingen- West Heimat diverser Projekte und Initiativen.
Auch der »Jahrhundertgeiger« Yehudi Menuhin, der am 22. April 90 Jahre alt geworden wäre, war das Kind von Einwanderern. Seine Eltern waren Russen jüdischen Glaubens. Als er 1999 während einer Konzertreise starb, hinterließ er nicht nur seine musikalischen Interpretationen von Bach bis Bartók, sondern eine Vielzahl künstlerischsozialer Projekte. Eines davon ist MUS-E, und eine der Profiteure ist Janine aus Ratingen-West.
Die Erich-Kästner-Schule mit ihren zwei Etagen erscheint seltsam niedrig zwischen all den Hochhäusern, die den Schulhof flankieren.Wer ihn verlässt, steht fast schon auf dem Parkplatz eines Supermarktes, der mit seinem Satteldach und den roten Ziegeln fast ein bisschen Exotik in die Flachdach-Landschaft bringt. Hochhäuser und Straßen, Asphalt und Beton sind die natürliche Umgebung für Kinder aus Ratingen-West. »Wenn man die Kinder hier bittet, ein Bild zu malen, und ihnen das Motiv völlig frei stellt, dann kommen immer wieder urbane Strukturen dabei heraus«, sagt Armin Kaster. Der 36- Jährige aus Neuss ist bildender Künstler, einer von 200 MUS-E-Künstlern, die jede Woche zwei Schulstunden mit den Kindern verbringen, mindestens drei Schuljahre lang. Zurzeit begleitet er Janine und ihre Mitschüler aus der 3c. Seine Stunden sollen nicht den Kunst-Unterricht ersetzen, darauf legt Schulleiter Horst Bischoff großen Wert.
Kaster benotet nicht, gibt kein Lernziel vor. »Ich lerne teilweise mehr von ihnen als sie von mir«, sagt er. Wenn die Kinder ihre Umgebung malen, dann verarbeiten sie dadurch ihre Erfahrungen, glaubt Kaster, der auch ausgebildeter Sozialpädagoge und Gestaltungs-Soziotherapeut ist. In jeder Stunde ist er aufs Neue fasziniert von »diesem Moment, in dem sich in den Köpfen der Kinder ein Schalter umlegt und sie in eine andere Realität eintreten«. Eine besondere, konzentrierte Stille liege dann über dem Klassenraum: Die Schüler sind versunken in sich und ihr Schaffen. Auch heute gibt es ihn wieder, diesen besonderen Moment.
Armin Kaster hat drei Papier-Leinwände auf dem Klassenzimmer- Boden ausgelegt, teilt die Klasse in drei Gruppen ein und bittet sie, das Papier mit Kreppband zu fixieren. Anschließend sollen die Kinder mit schwarzen Wachsmalstiften vom Rand aus eine Linie malen – und sofort stoppen, wenn sie auf eine andere Linie stoßen. Wenige Minuten später sind teils verspielte, teils geometrisch klare Muster entstanden, in denen die Schüler nun nach bekannten Formen, verborgenen Strukturen suchen sollen. Die Kinder verstehen sofort; mit Wasserfarben machen sie sich an die Arbeit, und bald sind die ersten der zufällig entstandenen Striche zu Lenkdrachen und Herzen, Blumen und Schlangen geworden. »Das nächste Mal bauen wir uns Holzrahmen für die Bilder«, verspricht Kaster.
Hildegard Meinelt ist Klassenlehrerin der 3c. Sie sitzt die ganze Zeit über im Raum, wird von ihren Schülern jedoch überhaupt nicht beachtet. »Anfangs habe ich noch mitgemacht«, sagt sie, »aber inzwischen genieße ich es, die Kinder zu beobachten und sie einmal ganz anders zu erleben.« Es gehört zum MUS-E-Konzept, dass die Lehrer stets dabei sind und mitmachen, wenn sie wollen. Denn MUS-E hat seine Effekte nicht nur auf Schüler, sondern auch auf Lehrer – idealerweise auf das ganze System Schule. Hildegard Meinelt zeigt auf zwei Jungen, »Problemfälle«, sagt sie. Unauffällig sitzen sie zwischen ihren Mitschülern und malen. »Einige Jungen hatten erst Vorbehalte«, erinnert sich Meinelt, »Malen sei Mädchensache.« Sie brachten nur Kopffüßler aufs Papier, jene nur aus Kopf und Beinen bestehenden Figuren, die Kindergartenkinder malen. Doch als sie merkten, dass es keine Noten gibt, kein »richtig« und kein »falsch«, jedoch durchaus Lob und Ermutigung durch den Künstler, da hätten sie sich getraut und ihre Hemmungen überwunden. Oder einmal, als ein Puppenspieler in der Klasse war. Da habe ein fast sprachbehinderter Junge durch seine Handpuppe plötzlich frei reden können und ein Märchen erzählt.»Da kamen mir fast die Tränen«, sagt Hildegard Meinelt, »das sind so Lichtblicke…«
Lichtgestalt, so wurde Yehudi Menuhin von Politikern und Journalisten oft genannt. Er war überzeugt davon, dass man Kindern alle Möglichkeiten geben, alle Türen zumindest einmal zeigen sollte, auf dass sie selbst entscheiden, durch welche sie gehen möchten. MUS-E stand bei seiner Gründung 1992 ursprünglich für »Music for Schools in Europe«. Erst seit 1999 gibt es MUS-E-Projekte auch in Deutschland, nachdem Menuhin in Düsseldorf die nach ihm benannte Stiftung gründete. Längst werden bei MUS-E alle Kunstsparten in gleichem Maße berücksichtigt. Neben bildenden Künstlern kommen Theatermacher, Musiker oder Tänzer an die Schulen. An der Erich-Kästner- Grundschule arbeitet neben Armin Kaster noch der Trommler Wolla Milles mit den Kindern, außerdem jeden Mittwoch der Tänzer Leonard Cruz.
Cruz kam Anfang der 90er Jahre aus New York nach Deutschland, um bei Pina Bausch zu tanzen. Später verbrachte er sieben Jahre am Bremer Staatstheater und ist seit 2001 freier Choreograf. In Ratingen lehrt er die Kinder keine Choreografien oder Tänze, sondern die Möglichkeit, sich mit ihrem Körper auszudrücken – und zwar mit allen Teilen. Zum Aufwärmen durchtanzen die Kinder in zehn Minuten eine Vielzahl an Emotionen. »Nein!«, rufen sie und stampfen mit dem Fuß auf den Boden. »Schönes Wetter!«, flöten sie beiläufig. »Ich bin zu spät!«, heißt es, wenn sie hektisch mit den Füßen trippeln und auf die Uhr sehen. Bei »Ich bin müde« sinken alle langsam zu Boden.
Die Grundschüler wackeln mit dem Kopf und den Hüften, ziehen die Schultern hoch und runter, simulieren Gummi-Knie und beschreiben Wellen mit den Armen. Jungen und Mädchen, Türken und Russen machen mit. »Emotionen wie Liebe, Hass, Heiterkeit, Begeisterung, Einsamkeit, Mitgefühl, Aggressivität, Lebensfreunde, Überfluss verlangen nach einem Ausdruck, ebenso wie unsere Gedanken«, schrieb Yehudi Menuhin drei Jahre vor seinem Tod, »auf lange Sicht können diese negativen Gedanken in kleinerem oder größerem Maß einen Nährstoff für Gewalt bilden.«
Jubel bricht aus, als Leonard Cruz die nächste Aufgabe ankündigt: Die Schüler sollen ein S tanzen. Er macht vor, wie das aussehen kann: Ellenbogen, Knie oder Beine können ein S in die Luft malen, man kann S-förmige Radschläge machen oder sich wie ein S auf den Boden legen. Dann sind die Kinder dran: In Vierer-Gruppen versuchen sie, so viele S wie möglich darzustellen; der Rest der Klasse zählt mit. Zum Abschluss zeigt Cruz den Zweitklässlern eine kleine Choreografie zu Popmusik von Justin Timberlake. So viel Spaß machen ihnen die Stunden mit dem Tänzer, dass die meisten Kinder zu Hause weitertanzen. Am 20. Mai ist Schul- und MUS-E-Fest an der Erich- Kästner-Grundschule, dann wird die ganze Schule, werden alle Lehrer und die Eltern zuschauen, was in den MUS-E-Stunden geschieht.
Den Unterricht, den die Kinder durch die Künstler-Stunden verpassen, holen sie nach. Andererseits bekommen die Lehrer dafür keinen Unterrichtsausgleich. Oft ist das auch gar nicht nötig, sagt Bettina Dornberg, Sprecherin der Yehudi Menuhin Stiftung. »MUS-E wirkt positiv auf die Konzentration. Viele Lehrer berichten uns, dass die Kinder dadurch schneller lernen.« Der Ratinger Schulleiter Horst Bischoff hängt die zwei Stunden in der Woche freiwillig dran. »Ich bin so begeistert von dem Projekt, dass ich das gerne mache«, sagt Bischoff, der seit 1977 an der Schule ist. Die Erich-Kästner-Grundschule war eine der ersten, die sich für MUS-E beworben haben; inzwischen sind es 122 Schulen mit 500 Klassen in Nordrhein-Westfalen, Bremen, dem Saarland und Baden-Württemberg – macht 12.000 Schüler. Weitere Bundesländer sollen in diesem Jahr folgen, dank des Engagements des Großsponsors RWE. Die Stiftung hat die Aufgabe, Sponsoren für neue Projekte zu finden. In NRW übernimmt in Stadtteilen wie Ratingen- West das Ministerium für Bauen und Verkehr 85 Prozent der Kosten; 15 Prozent müssen akquiriert werden. Manchmal nimmt Bettina Dornberg interessierte Geldgeber mit in die Schulen und zeigt ihnen, was dort passiert – dann kann gar nicht mehr viel schief gehen. Wer erlebt hat, wie sich Schüler verwandeln, die aufgefordert werden, sich ihrer eigenen Kreativität zu überlassen und einmal nicht bloß zu konsumieren, der ist vom MUS-E-Programm sogleich überzeugt.
Gerard Menuhin, eines der vier Kinder des Geigers und Stiftungsgründers, wurde Ende 2005 von der Stiftung seines Vorstands-Ehrenamtes enthoben, weil er regelmäßig in Blättern wie der »National- Zeitung« und »Deutsche Stimme« veröffentlicht hatte. Das passte nicht zum Grundgedanken von MUS-E und zu den prominenten Persönlichkeiten, die dafür sorgen, dass sich Unterstützer in guter Gesellschaft befinden: Die Gattin des NRW-Ministerpräsidenten ist Schirmherrin; im Kuratorium sitzen unter anderem Rita Süssmuth und Hermann van Veen. Sehr unterschiedliche Organisationen und Personen engagieren sich für MUS-E, weiß Dornberg – unter anderem der Gemeindeunfallversicherungsverband, der zur Begründung anführt, dass Kinder weniger Unfälle verursachen, wenn sie gelernt haben, sich auf sich selbst zu konzentrieren. //