WESTKIND: Herr Buether, 2016 hießen die Trend-Farben von Pantone »Rose Quartz« und «Serenity«. Jedes Jahr sucht die amerikanische Firma nach Tönen, die Ausdruck des aktuellen Lebensgefühls sind. Warum will uns Pantone damit zurück in die Kindheit versetzen – mit Farben wir Rosa und Hellblau?
Buether: Die Kindheit ist Mittel zum Zweck. Modefarben haben vor allem eine Aufgabe: Sie sollen den Konsum ankurbeln. Und Hellblau und Rosa signalisieren uns: Die Welt ist heil.
WESTKIND: Diese Farben sollen also ein Gegenbild zu den Krisen und Katastrophen entwerfen, von denen die Nachrichten dominiert sind?
Buether: Es sind Farben, die sehr stark für Werte wie Kinder, Familie, aber auch für Freizügigkeit und Offenheit stehen. Pastellfarben sind seit Jahren dominant. In ihnen drückt sich Zartheit und Verletzlichkeit aus. Das kann man tatsächlich als Gegenbewegung zu den schlechten Nachrichten verstehen.
WESTKIND: Bemerkenswerterweise empfiehlt Pantone Rosa für den Mann, Hellblau für die Frau. Die typische Geschlechterzuschreibung wird damit umgekehrt.
Buether: Dieser Trend war schon länger auf Messen zu beobachten. Es gibt immer mehr Männer, die sich Rosa trauen. Die Rollen verschwimmen und das männliche Selbstverständnis verändert sich. Es geht weg von Härte und Dominanzverhalten. Insofern stehen die Trendfarben 2016 nicht nur für die heile Kindheit, sondern auch für die Gleichberechtigung von Mann und Frau.
WESTKIND: Aber in den Kinderzimmern ist dieser Trend noch nicht angekommen.
Buether: Grundsätzlich gilt: Farben schaffen Orientierung. Auf U-Bahn-Plänen genauso wie in der Stadt. Und man kann Kleidungsfarben auch als Leitsystem verstehen. Wenn Sie einen Jungen rosa ausstaffieren und im Kinderwagen durch die Gegend fahren, werden die Menschen sagen: »Oh, was für ein schönes Mädchen.« Wir gehen immer davon aus, dass wir unsere Kinder nach unseren Ideen prägen und erziehen. Doch das ist nicht so einfach. Die Mädchenfarbe ist heute Rosa, ob das nun zu unseren Vorstellungen von Gleichberechtigung passt oder nicht. Es ist wahnsinnig schwer, gegen diese rosa Welt anzuerziehen. Es gibt viele Kindergärten, die das versuchen. Aber meistens scheitern sie krachend. Und irgendwann kommt dann die Oma und stattet das Kinderzimmer mit rosa Accessoires aus.
WESTKIND: Sind Mädchen heute stärker auf Rosa festgelegt als etwa in den 1970er Jahren, in denen die 68er ihre Kinder erzogen haben?
Buether: Selbst wenn es so wäre: Ist es tatsächlich ein Problem, dass wir Geschlechter farblich unterscheiden? Rosa und Hellblau leiten sich von den Vollfarben Blau und Rot ab. In der christlichen Symbolik wurde Blau der Maria zugeschrieben, den tugendhaften kleinen Mädchen. Rot hingegen war die kraftvolle Farbe der Macher. Das gemeine Volk konnte sich keine Farben leisten, man trug ungefärbte Baumwollkleidung. Wer Geld hatte, zeigte Farbe, und vor allem der Stammhalter wurde in Rot gekleidet. Das war in einer Zeit, in der die Kindersterblichkeit hoch war, auch eine Überlebensfrage. Denn damals galt Rot als kraftspendende, das Leben symbolisierende und schützende Farbe.
WESTKIND: Rot war ursprünglich also eine männliche Farbe?
Buether: Mit Rot wurde gesellschaftlicher Anspruch und Macht zur Geltung gebracht. Denken Sie an den Purpurmantel der Könige. Im Zuge der sexuellen Revolution hat sich diese Zuschreibung verändert. Das von Rot abgeleitete Rosa ist zu einer Farbe der Emanzipation und sexuellen Befreiung geworden. Denn es ist sinnlich. Im Tierreich steht Rosa für sexuelle Attraktion. Paviane etwa kommunizieren innerhalb der Gruppe stark über rosa Hautpartien. Wenn Girlies und Pop-Stars sich heute in Rosa kleiden, dann unterwerfen sie sich nicht weiblichen Stereotypen. Ganz im Gegenteil: In ihrem Outfit drückt sich ein verändertes Rollenbild aus.
WESTKIND: Aber dass Männer Rosa tragen, ist noch immer eine Ausnahme?
Buether: Rosa ist eine gute Farbe für den modernen Mann. Rosa Kleidung lässt Männer nackt und unbekleidet erscheinen. Das wirkt auf ihre Umwelt. Eine unserer Studien hat gezeigt, dass entsprechend gekleidete Männer in ihrem Verhalten auffallend femininer waren.
WESTKIND: Waren sie tatsächlich femininer, oder wirkten Sie nur auf ihre Umwelt so?
Buether: Diese Weichheit lag nicht nur im Auge der Betrachter. Wir haben die Wirkung untersucht, indem wir Studierende Rosa haben tragen lassen und ihre Bewegungsabläufe bis hin zur Mimik dokumentiert haben. Sie waren weniger aggressiv und dynamisch. Zu erklären ist das durch eine Art Spiegeleffekt. Wenn Männer Rosa tragen, werden sie weniger als Konkurrent wahrgenommen. Dadurch ändert sich das Verhalten ihrer Gegenüber und die Träger von Rosa wiederum reagieren dann auch weicher.
WESTKIND: Ist die Bedeutung von Farben durch die Jahrhunderte stabil?
Buether: Was wir mit Farben verbinden, was sie für uns bedeuten, das ist von Natur aus in uns angelegt. Unsere Gene haben sich in den letzten Hunderttausend Jahren nicht verändert. Farbwahrnehmung diente zum Überleben der Spezies Mensch. Das bringt uns immer wieder zurück zur ursprünglichen in uns angelegten Bedeutung von Farben.
WESTKIND: Und was heißt das in Bezug auf Hellblau?
Buether: Es finden sich wenig blaue Zapfen im Zentrum der Netzhaut. Sie sind außen angeordnet, um die roten und grünen herum. Denn Blau ist für uns eine Hintergrundfarbe. Vor dem blauen Horizont des Himmels zeichnen sich Formen ab. Blau ist für uns immer etwas Offenes, Tiefes, Weites. Es eröffnet uns einen Raum, in dem wir uns bewegen. Da lässt sich kulturell nicht überformen.
WESTKIND: Was passiert, wenn man es doch versucht?
Buether: Aral hat mal blaue Bierdosen herausgebracht. Damit ist der Ölkonzern kolossal vor die Wand gefahren. Blaue Lebensmittel wirken niemals lecker. Man muss schon sehr mutig sein, um blaue Nudeln oder blauen Reis zu probieren. Blaues Fleisch? Niemals. Das funktioniert selbstverständlich auch andersherum. Farben können den Appetit anregen, weil sie auf den Stoffwechsel wirken. Unser Blutzuckerspiegel fährt runter, wenn wir von Cremetönen und Braun umgeben sind. Das heißt: Wir bekommen Appetit auch dann, wenn wir nicht beim Konditor sind.
WESTKIND: Und Restaurantbesitzer wissen das?
Buether: McDonalds hat seine McCafés zunächst in der gleichen Farbgebung gestaltet wie das ganze Restaurant. Das hat nicht funktioniert, und sie haben es verändert. Wenn wir nach dem Burger-Menü jetzt pappsatt zum überwiegend braun gehaltenen McCafé hinüberschauen, ist plötzlich doch noch Platz für einen Latte Macchiato und ein Stück Kuchen. Das ist vollkommen ungesund, aber so funktioniert Werbung. Verpackungsdesign ist eines der wichtigsten Werkzeuge, um unser Konsumsystem zu verändern.
WESTKIND: Verändert sich unsere Farbwahrnehmung im Laufe des Lebens?
Buether: Mit dem Alter wird die Linse trüber und härter, sodass uns bestimmte Farben verloren gehen. Ältere Menschen bevorzugen nicht ohne Grund wärmere Farben wie Braun und Rot. Das machen sie, weil ihnen, bedingt durch die Veränderung der Linse, eben diese Farben fehlen. Sie versuchen unbewusst, ihre normale Umgebungsfarbe wieder herzustellen. Sie werden unmerklich immer wärmer, in ihrer Einrichtung und in ihrer Kleidung. Kinder hingegen sind viel lichtempfindlicher als Erwachsene, und sie können sehr viel mehr Farben sehen.
WESTKIND: Was bedeutet das für die farbliche Gestaltung des Kinderzimmers?
Buether: Rezepte gibt es nicht. Sinnvollerweise setzen wir immer wieder neue Farbanreize, indem wir die Zimmer regelmäßig umgestalten. Abwechslung und Experimente schaden nie. Sie kochen ja auch nicht immer nur ein Gericht und hören nicht tagein tagaus nur ein Musikstück. Wichtig ist auch, dass wir auf die Wünsche der Kinder eingehen. Das machen wir viel zu wenig. Wir nehmen unseren Kindern dauernd Entscheidungen ab, wenn es ums Essen, ums Lesen oder ums Fernsehen geht. Warum fragen wir sie nicht selbst, welche Farben sie tragen möchten und wie sie ihr Zimmer gestalten möchten? Dann werden wir sehen, dass Kinder sehr offen sind.
WESTKIND: Was verraten Farben über unseren Lebensstil?
Buether: Gehen Sie mal in unterschiedliche Kaufhäuser und fotografieren Sie dort die Waren. Sie werden an der Farbigkeit erkennen, welches Angebot das wertigere ist. Je höher die Preise, desto farbloser die Produkte. Farbe ist ein Fingerabdruck, an dem Sie die Zugehörigkeit von Menschen zu sozialen Schichten erkennen können. Das fängt bei Kindern schon in der Schule an. Kinder gehen mit dem Klassengeschmack. Sie werden da kaum etwas gegen den Druck der Mitschüler einführen können. Das ist problematisch – und ein gutes Argument für die Schuluniform.
Axel Buether ist Professor für Didaktik der visuellen Kommunikation und Vorsitzender des Deutschen Farbenzentrums.