Ist das eigentlich auch kulturelle Aneignung? Ist das überhaupt korrekt unter genderpolitischen Gesichtspunkten? Wer hat hier welche Rolle und in welcher geschlechtlichen Maske und spricht für wen? Aber nun mal langsam: Wir sehen eine Frau, die einen Mann spielt, der eine Frau spielt bzw. sie singt und tanzt. Wir sind in Paris, da ist ja manches möglich, auch wenn »Life is a Cabaret« wiederum und andererseits auf einer Berliner Bühne zum Vortrag gekommen ist.
»Victoria/Victoria«, Blake Edwards’ absolut hinreißende, wie Champagner perlende, Korken knallen lassende Komödie hat eine Vorgängerin. Einen deutschen Film von Reinhold Schünzel, datiert auf das Schreckensjahr 1933: »Viktor und Viktoria« mit Renate Müller, die 1937 in Berlin in Folge des Sturzes aus einem Fenster ihrer Villa starb, nachdem sie von der Gestapo und dem monströsen obersten Ufa-Befehlshaber Goebbels unter Druck gesetzt worden war. Schünzels Lustspiel ist weniger frivol, als Edwards’ fast 50 Jahre später gedrehtes Remake, aber riskant und mutig genug für eine Zeit, die ein sehr anderes Männer- und Frauenbild propagiert hat.
Die arbeitslose Sängerin Victoria Grant bewirbt sich ohne Erfolg an einem Revuetheater und isst sich anschließend vor Hunger durch die Speisekarte eines Bistros, um dann einen Kakerlak aus ihrer Handtasche in den Salat springen zu lassen und mit dem Eklat die Rechnung zu vermeiden. Bei der Gelegenheit trifft sie den Kollegen Toddy (Robert Preston), der ihr Obdach gibt und die Idee hat, sie als Graf Victor Grezhinski und Travestie-Sensation zu präsentieren. Der Auftritt wird zum Triumph. Tout Paris liegt ihm (der eine Sie ist) zu Füßen, so dass der Nachtclub-Nabob King Marchand aus Chicago anreist, um Victor zu engagieren und sich in – ja, in wen: in sie, in ihn? – zu verlieben. Victors Bekenntnis, ein Mann zu sein, der es nicht nötig habe, dies ständig unter Beweis zu stellen, ist Victorias klügste Einsicht. Und macht auch etwas mit dem stolzierenden Superman King Marchand.
Feuerwerk der Pointen
Blake Edwards’s Film ist ein Feuerwerk der Pointen, des Esprits, der Eleganz. Darunter als running gag ein Kellner, der trotz seines Wechsels von einem Lokal ins nächste Etablissement immer wieder mit denselben Gästen zu tun bekommt, die den Laden demolieren. Es gibt komische Nebenfiguren wie ein quietschiges und intrigantes Revue-Mäuschen und Showgirl (Lesley Ann Warren ); einen tölpeligen Privatdetektiv, der dem unsterblichen Peter Sellers aus dem (ebenfalls von Blake Edwards’ dressierten) »Rosaroten Panther« nachgebildet ist. Zuvörderst aber den wunderbar selbstironisch gealterten Schwulen Toddy (Robert Preston), der sich am Ende selbst in Victorias Robe zwängt und mit spanischer Grandezza in die Knie geht.
Und James Garner als kerniges Mannsbild, der es mit seinem Selbstverständnis vereinbaren muss, dass er sich anscheinend/scheinbar in einen Mann verliebt, der auf der Bühne als Frau brilliert, und dessen Leibwächter-Kumpel (Alex Karras) zwar von echtem Schrot und Korn ist, was ihn keineswegs hindert, Männer zu lieben. Ja, und die blank polierte Stahlmagnolie Julie Andrews, deren Stimme Töne fabriziert, dass Glas zerspringt, und die Songs singt, für deren Komposition Henry Mancini den Oscar erhielt.
Aktuell konnte man lesen, dass in England die Musicalverfilmung von »Mary Poppins« ebenfalls mit Julie Andrews als nicht mehr jugendfrei eingestuft worden ist, weil darin zweimal das Wort »Hottentotten« fällt. So spricht der neue alliierte Kontrollrat. »Victor/Victoria« ist so herrlich unkorrekt, leicht- und freisinnig, lebenswarm und emanzipatorisch kühn, dass wir für dieses Spiel der Identitäten um sein/um ihr Schicksal bangen müssen.